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Deutschland "Gorch Fock"

Kontroverse um das Körpergewicht der toten Kadettin

Der Tod der Offiziersanwärterin bleibt rätselhaft. Die Familie widerspricht Berichten, die junge Frau sei für den Dienst auf der "Gorch Fock" zu dick gewesen.

Nach einem Untersuchungsbericht der Marine hätte die am 7. November 2010 auf dem Segelschulschiff "Gorch Fock“ ums Leben gekommene Offiziersanwärterin Sarah Lena S. gar nicht an Bord sein dürfen. In dem Bericht, aus dem die „Bild“-Zeitung zitiert, wird die Kadettin nach der Obduktion als "nicht borddiensttauglich“ beschrieben. Die 1,58 Meter große Soldatin habe 83 Kilo gewogen und deshalb an der Übung, bei der sie aus der Takelage stürzte, nicht teilnehmen dürfen. Das lässt den tragischen Todesfall womöglich in einem neuen Licht erscheinen.

Familie: "Sarah war topfit und sportlich"

Der Anwalt der Familie aber widerspricht dem Untersuchungsbericht. Die junge Frau habe nicht 83, sondern gut 60 Kilo gewogen, sagte Thomas Kock. Woher die Gewichtsangabe komme, sei ihm unklar. Bisher habe er bei der Staatsanwaltschaft keine Akteneinsicht erhalten.

Die Mutter des Unfallopfers berichtete der in Hameln erscheinenden "Deister- und Weserzeitung“, eine Woche vor dem Unglück sei ihre Tochter noch bei ihr in Bodenwerder gewesen. Dabei hätte ihr auffallen müssen, wenn Sarah so deutlich zugenommen hätte. "Sie war ganz normal bei ihrem Besuch. Sarah war topfit und sportlich. Sie hat immer um die 55 bis 58 Kilo gewogen.“ Ein angebliches Gewicht von 83 Kilo sei "völlig an den Haaren herbeigezogen“.

Konkret heißt es in dem Untersuchungsbericht laut Zeitung, die Obduktion des Leichnams habe ein Körpergewicht ergeben, "welches in Relation zur Körpergröße eine Borddienstverwendungsfähigkeit ausgeschlossen hätte“. Zudem soll die Soldatin aufgrund ihrer geringen Körpergröße früher eine Ausnahmegenehmigung für eine Borddienstverwendungsfähigkeit auf der Fregatte "Mecklenburg-Vorpommern“ erhalten haben, diese sei aber für ihren Aufenthalt auf der "Gorch Fock“ nicht gültig gewesen und hätte neu erteilt werden müssen.

Verteidigungsministerium hält sich bedeckt

Bislang war immer von Ermüdung aufgrund starker körperlicher Belastung als Ursache für den tödlichen Unfall die Rede gewesen. Sarah S. war wohl beim siebten Aufentern in Folge aus knapp 30 Meter Höhe auf das Deck gestürzt und kurz darauf im Krankenhaus verstorben.

Das Verteidigungsministerium will sich zu den neuen Erkenntnissen nicht äußern und verweist auf die Staatsanwaltschaft. „Alle relevanten Dokumente“ seien dorthin übergeben worden, betonte ein Sprecher. Zum Inhalt der Papiere wolle er nichts sagen, so lange die Untersuchungen noch liefen. Die Staatsanwaltschaft äußerte sich ähnlich: Die Frage der Borddienstverwendungsfähigkeit sei noch Gegenstand der Prüfungen.

Diese Verwendungsfähigkeit wird in der Bundeswehr durch eine sogenannte Belegart (BA) 90/5 dokumentiert. Dies ist ein Formular, das den Gesundheitsstatus des Soldaten festhält und über seine Verwendungsfähigkeit bestimmt. Ein "90/5er“ ist etwa für die Offizierslaufbahn erforderlich. Ein ehemaliger Marine-Offizier erinnert sich, dass zu seinen Zeiten für die "Gorch Fock“ sogar ein bestimmter Nachweis erforderlich war, dass ohne Bedenken Arbeiten in hohen Aufbauten verrichtet werden können.

Vorgesetzte müssen körperliche Verfassung beobachten

Gleichwohl sei jeder Bundeswehrsoldat dazu verpflichtet, einmal im Jahr den Basis-Fitness-Test zu absolvieren, in dem Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit und Koordination überprüft werden. „In der Marine erlebte ich, wie gerade für Kameraden, die kaum Sport machten und sich ungesund ernährten, dieser Test grenzwertig war. Sie begründeten ihre schlechte Fitness mit den vielen Tagen auf See“, sagte der Ex-Offizier der "Welt“. Tatsächlich habe auch er durch das viele Essen und die mangelnde Bewegung an Bord zugenommen. Mit anderen Worten: Lange Fahrten auf See können jeden dick machen. Eine Zunahme von gut 20 Kilogramm, wie bei der Kadettin behauptet wird, kann er sich nur schwer vorstellen.

Dennoch sind die Vorgesetzten verpflichtet, auf die körperliche Verfassung ihrer Untergebenen zu achten. Sollte also ein Soldat den Fitness-Test nicht bestehen oder Zweifel an seinem körperlichen oder geistigen Zustand auftauchen, bleibt jedem Vorgesetzten die Möglichkeit, eine Prüfung beim Truppenarzt anzuweisen. „Doch auch hier erlebte ich Zurückhaltung, weil einige militärische Führungskräfte selbst mit Gewichtsproblemen zu kämpfen hatten“, so der Ex-Offizier.

Bundeswehrverband fordert juristische Folgen

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Die Kadettin Sarah S. soll bei der letzten Überprüfung im August 2009 normalgewichtig gewesen sein. Warum fiel die angebliche Gewichtszunahme bis zu ihrer Versetzung auf die „Gorch Fock“ mit ihrer anstrengenden Ausbildung nicht auf? Und warum nahm auch an Deck bis zum Unfall niemand Notiz davon? Sollten sich Versäumnisse herausstellen, muss das nach Ansicht des Vorsitzenden des Deutschen Bundeswehrverbandes, Oberst Ulrich Kirsch, juristische Folgen haben. Besser werden muss auf alle Fälle die Kommunikation. „Im Monitoring ist offensichtlich einiges schief gelaufen“, wenn die körperliche Veränderung erst drei Monate nach dem Unglück durch eine Obduktion festgestellt worden sei, sagte Kirsch der „Welt“.

Aus Bundeswehrkreisen werden erste Forderungen laut: Das gefährliche Aufentern in die hohen Masten könnte durch Haltegurte sicherer gemacht werden, die auf Schiffen wie der Bark „Alexander von Humboldt“ längst verwendet werden.

Zuständiger Unteroffizier war nicht eingewiesen

Der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Reiner Arnold, sagte, dass Umstände wie auf der „Gorch Fock“ rechtzeitig erkannt werden müssten. „Führungsverantwortung heißt vor allem Hinschauen, auf allen Ebenen.“ Laut Arnold gab es allerdings eine gültige Ausnahmeregelung der Offiziersanwärterin für die „Gorch Fock“, nur sei diese nach der Aktenkenntnis von 2009 erstellt worden. Wie die körperliche Verfassung ein Jahr später war, stehe nicht in den Akten.

Laut „Bild“ gab es auch bei der Einweisung der Vorgesetzten Probleme. Der Unteroffizier, der zum Unfallzeitpunkt auf der „Gorch Fock“ Dienst hatte, sei erst am 5. November an Bord gekommen – nur zwei Tage vor dem Unfall. „Eine Einweisung in seine Pflichten, Aufgaben, speziell während der Segelvorausbildung in der Takelage, hat nicht stattgefunden, da man der Meinung war, dass er wissen müsste, was er zu tun und zu lassen hat“, zitiert die Zeitung aus dem Bericht.

Das Segelschulschiff ist nicht nur wegen des ungeklärten Todes der Kadettin Gegenstand von Untersuchungen. Offiziersanwärter werfen der Stammmannschaft Drangsalierung der Kadetten bis hin zu sexuellen Nötigung vor, was die Mannschaft in einem Brief zurückweist. Eine Kommission ist an Bord, um die Vorwürfe aufzuklären. Das Schiff befindet sich derzeit auf der Heimreise von Südamerika.

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