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Deutschland "Drittes Reich"

100 Schulen nach Nationalsozialisten benannt

Irena-Sendler-Schule Irena-Sendler-Schule
Die Irena-Sendler-Schule in Hamburg. Früher hieß sie Peter-Petersen-Schule
Quelle: HA / A.Laible
Nicht immer können sich deutsche Schulen ihren Namenspatron aussuchen. Als ein sächsisches Gymnasium sich umbenennen wollte, schritten die Behörden ein.

Ein Apfelbaum wächst auf dem Schulhof der Irena-Sendler-Schule im Hamburger Stadtteil Wellingsbüttel. Der Baum ist noch jung, er wurde im November 2010 gepflanzt und soll an die polnische Krankenschwester Irena Sendler erinnern, die trotz ihrer großen Taten nie „Heldin“ genannt werden wollte. Während der deutschen Besetzung Polens rettete Sendler 2500 Kinder aus dem Warschauer Ghetto.

Unter Lebensgefahr schmuggelte sie sie durch die Kanalisation auf die „arische“ Seite der Stadt und sorgte für sichere Unterkunft. Schulleiterin Ute Pape spricht mit Begeisterung über die Namenspatronin ihrer Schule. Das war nicht immer so. Denn noch vor drei Monaten hieß das Gymnasium Peter-Petersen-Schule – nach dem Jenaer Reformpädagogen, der während der Zeit des Nationalsozialismus und darüber hinaus rassistisches Gedankengut propagierte.

Rund einhundert deutsche Schulen trugen und tragen noch heute Namen von NS-Größen. Der Chemnitzer Historiker Geralf Gemser untersuchte Hintergründe der Namensgebung von rund 33.000 deutschen Schulen. Unter anderem die Veröffentlichung seiner Studienergebnisse entfachte eine Diskussion darüber, ob solche Namen Eingangstore von Bildungseinrichtungen zieren sollten. Heute spricht Gemser nicht mehr gern über dieses Thema, schreibt er in einer E-Mail, da „die Wochen nach der Veröffentlichung im Frühjahr 2009 sehr schwierig für mich waren“.

Auch die Schulen mussten sich gegen heftige Kritik wappnen. Sie reagierten unterschiedlich auf die öffentliche Diskussion, die im Vorfeld oftmals schon lange in Klassenzimmern, auf dem Pausenhof und bei Schulkonferenzen schwelte. Von außen betrachtet, ist es unverständlich, warum manche Schulen ihre Namen behalten haben. Doch oft erstreckte sich die Entscheidung über Jahrzehnte, in denen jedes Für und Wider abgewogen wurde.

Wernher-von-Braun-Gymnasium behält seinen Namen

Die ersten Schritte zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte machte das Wernher-von-Braun-Gymnasium in Friedberg, nahe Augsburg, in den 90er-Jahren. Eltern und Lehrer bildeten einen Arbeitskreis, zogen Politologen und Historiker zu Rate und versuchten die Namensgebung ihrer Schule nachzuvollziehen. Wernher von Braun war ein deutscher Raketeningenieur und konstruierte die erste Großrakete mit Flüssigtreibstoff A4, von den Nationalsozialisten „Vergeltungswaffe 2, V2“ genannt.

Braun war Mitglied der NSDAP und Waffen-SS-Sturmbannführer. An der Produktion der Rakete waren Zwangsarbeiter beteiligt, von denen viele bei der Arbeit starben. Von der Waffe wird behauptet, sie habe mehr Menschen am Fließband als im Einsatz getötet. Im September 1944 fiel die erste A4-Rakete auf London. Braun soll daraufhin gesagt haben, dass die Rakete perfekt funktioniere, außer, dass sie auf dem falschen Planeten gelandet sei. Eine Aussage, die vermuten lassen könnte, dass Braun mit der Umsetzung seiner Forschung durch die Nationalsozialisten nicht zufrieden war. Sein Traum sei gewesen, Menschen zum Mond zu fliegen – doch durch seine Technik wurden Menschen getötet. Der Arbeitskreis am Wernher-von-Braun-Gymnasium entschied sich, den Namen trotz seiner womöglich fragwürdigen Außenwirkung zu behalten.

Die Ambivalenz von Wissenschaft, die für die Entwicklung der Menschheit wichtig ist – aber auch missbraucht und für Leid und Zerstörung sorgen kann – wurde Teil der Schulidentität. Die Thematisierung dieses Konflikts spielt an der technisch-mathematisch orientierten Schule eine wichtige Rolle. „Die Frage in wie weit der Wissenschaftler für das verantwortlich ist, was aus seinen Erkenntnissen gemacht wird, ist eine gewinnbringende Diskussion mit Schülern“, sagt Direktor Bernhard Gruber.

In Pflichtunterrichtsstunden setzen sich die Schüler mit ihrem Patron auseinander. So fragen sich Oberstufenschüler in Intensivseminaren, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse heute vor verheerendem Missbrauch geschützt werden sollten. Gruber würde dennoch heute einen anderen Patron für die Schule wählen – wohl auch, weil er als Leiter immer wieder E-Mails erhält, die ihn und seine Schule als „ewig gestrig“ bezeichnen. Für Gruber ist das kein Grund für eine Umbenennung: „Es ist relativ leicht einen Namen zu ändern, aber es lässt sich darüber streiten, ob das der pädagogisch sinnvollere Weg gewesen wäre.“

Sauerbruch-Gymnasium darf sich nicht umbenennen

Das Wernher-von-Braun-Gymnasium verstößt mit seinem Namen nicht gegen das Gesetz. Sind sich Schulträger, Lehrerkonferenz, Elternbeirat und Schülervertretung einig und das Kultusministerium hat keinen Einwand, kann sich eine Schule so nennen, wie sie möchte. In Sachsen sieht die Gesetzeslage ähnlich aus: Die Träger der Schulen, meist die Gemeinden, können beschließen, wie sich eine Schule nennen soll. Das Staatsministerium für Kultus des Landes schränkt ein, es sei sorgfältig abzuwägen, ob die Person, die durch die Namensgebung eine Vorbildrolle für die Schüler erfüllen soll, dafür geeignet sei. In einem sächsischen Ort wird anscheinend Ferdinand Sauerbruch – Chirurg und Generalarzt unter Hitler – eine solche Vorbildfunktion zugestanden.

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Im Frühjahr 2009 hatten sich Lehrer, Schüler und Eltern des Ferdinand-Sauerbruch-Gymnasiums in Großröhrsdorf – einschließlich des Schulleiters – in einer Schulkonferenz für die Ablegung des Namens entschieden. Danach schritten die örtlichen Behörden ein. „Zahlreiche Persönlichkeiten aus Großröhrsdorf und dem Stadtrat von Großröhrsdorf“ hätten den Antrag auf die Änderung des Schulnamens abgelehnt, heißt es in einer Stellungnahme des zuständigen Landrats Michael Harig (CDU). Das Gymnasium wurde im Jahr 1990 nach dem Chirurg benannt, der als hohes Mitglied der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1942 Gelder für die Forschung an KZ-Häftlingen bewilligte und Träger des „Ritterkreuzes zum Kriegsverdienst mit Schwertern“ war.

Dennoch pflegt man in der Stadt unweit von Dresden die guten Erinnerungen an den Leibarzt von Joseph Goebbels. Sauerbruch habe in zweiter Ehe eine Großröhrsdorferin geheiratet und hätte sich dort zeitweise aufgehalten, schreibt der Landrat aus Bautzen. Er muss im 7000-Seelen-Ort einen guten Eindruck hinterlassen haben, denn in der Stellungnahme steht: „Bei seinen Besuchen in der Stadt erwarb er sich durch die Behandlung von Einheimischen hohes Ansehen, das in der älteren Generation zum Zeitpunkt der politischen Wende 1990 noch lebendig war“.

Ein ehemaliger Abiturient des Sauerbruch-Gymnasiums gehe nun in seiner Dissertation der Fragestellung nach, ob eine neue Bewertung Ferdinand Sauerbruchs erfolgen müsse oder ob die Namensgebung weiter vertretbar sei. Wie sich der Schulleiter mit dem Namenspatron seiner Institution fühlt, ist fraglich. Er leitete alle Anfragen an den Landrat weiter.

In Hamburg sind die Knospen am Apfelbaum Ende Februar schon dick. Der neue Name hat an der Irena-Sendler-Schule für frischen Wind gesorgt. Eine Theatergruppe führt das Stück „Leben im Glas“, die Geschichte ihrer Patronin, auf. Auch an Demokratiewettbewerben nehmen Schülergruppen teil, einen haben sie schon gewonnen. Wahrscheinlich wäre Irena Sendler zufrieden mit ihren Schützlingen gewesen. „Natürlich können nicht alle Schüler zu Helden heranwachsen“, schränkt Direktorin Pape ein und macht auf die Worte von Piotr Zettinger aufmerksam, der an den Festaktivitäten zur Umbenennung der Schule teilnahm.

Zettinger wurde von Sendler im Alter von vier Jahren durch die Abwasserkanäle des Ghettos in die Freiheit geführt. Er rät den Schülern, sich in schwierigen Situationen zu fragen, was Irene Sendler wohl getan hätte. „Ich bin überzeugt, dass die Antwort auf diese Frage viel Kraft geben kann, um der Versuchung von falschen Propheten zu widerstehen“, sagt Zettinger.

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