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Deutschland Flucht aus dem Amt

Warum Horst Köhler nicht mehr Präsident sein wollte

Vor rund einem Jahr trat Horst Köhler von seinem Amt als Staatsoberhaupt zurück. Erklärt hat er sich nicht. Das ganze Land fragte sich: Was war eigentlich passiert?

Den Morgen des 31.Mai 2010, es ist ein Montag, beginnt Horst Köhler mit einer Joggingrunde. Danach lässt er sich von seiner Villa in Dahlem ins Schloss Bellevue fahren. Er telefoniert. Um Punkt 14 Uhr tritt er im klassizistischen Langhans-Saal vor die Mikrofone, an der Seite seine Frau Eva Luise Köhler, sie sind Hand in Hand hereingekommen.

Der Auftritt dauert drei Minuten. „Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten – mit sofortiger Wirkung.“ Deutschland verliert sein Staatsoberhaupt. So etwas hat die Bundesrepublik in den 61 Jahren ihres Bestehens noch nicht erlebt. Wieso? Warum? Was hat den Präsidenten bloß getrieben? Weshalb hat der fleißig-pflichtbewusste Horst Köhler plötzlich und unwiderruflich auf diese Weise gehandelt?

Bis heute sind viele fassungslos über den Rücktritt

Selbst Mitarbeiter und Weggefährten sind fassungslos. Und bleiben es bis heute. Horst Köhler erklärt sich nicht, verschwindet in den folgenden Monaten aus der Öffentlichkeit. Als er wieder auftaucht, in diesen Wochen, als er in Ludwigsburg die Ehrenbürgerwürde entgegennimmt, durch Polen reist, sagt er immer nur, dass er nichts sage. Oder bestenfalls vielleicht das: Er bereue nichts. Er würde sich wieder so verhalten, in einer vergleichbaren Situation. Was ist damals geschehen? Wann begann diese „Situation“?

Auch am 22.Mai 2008, zwei Jahre vor seinem Rücktritt, tritt der Bundespräsident im Langhans-Saal auf. Köhler hat sein Amt seit vier Jahren inne, nun will er für eine zweite Amtszeit kandidieren. Köhler sagt in die Mikrofone, er trete an, um „unserem Land etwas zurückzugeben von dem, was es mir gegeben hat“. Er lächelt. Er ist im Volk beliebt, das weiß er, und er sonnt sich in dieser Popularität.

Aber seine Bewerbung ist nicht ohne Risiko. Union und FDP, die Köhler 2004 ins Amt gehievt haben, fehlt eine Mehrheit in der Bundesversammlung, jenem Gremium, das den Präsidenten wählt. Mit Gesine Schwan haben SPD und Grüne eine eigene Kandidatin.

Bislang haben erst drei der neun deutschen Bundespräsidenten eine Wiederwahl angestrebt. Theodor Heuss, Heinrich Lübke und Richard von Weizsäcker besaßen dafür eine breite Zustimmung von Regierung und Opposition, als sie sich abermals zur Wahl stellten. Dennoch verlief die zweite Amtszeit bei allen eher belanglos als beeindruckend. Es wirkte stets so, als hätten diese Männer Energie und Esprit verloren.

Köhlers Umfeld warnt ihn vor der Wiederwahl

Horst Köhler besitzt, als er sich für eine zweite Kandidatur entscheidet, kein überwölbendes Thema für ein weiteres halbes Jahrzehnt. Schon während seiner ersten Amtszeit (von 2004 bis 2009) sprach er zwar etliche Themen an, widmete sich aber keinem von ihm ausdauernd, abgesehen von dem sehr speziellen Gebiet der Finanzmärkte und, durchaus mit Renommee, dem afrikanischen Kontinent, dem er sich verbunden fühlt.

Doch Köhler will es jetzt wissen, er zeigt sportlichen Ehrgeiz. Obwohl sein engstes Umfeld warnt. „Köhler ist eher ein starker Charakter als ein kluger Politiker“, sagt einer, der ihn gut kennt. Köhler stützt sich auf Umfragen, wonach vier von fünf Bürgern seine Arbeit schätzen. Die Deutschen sind also auf seiner Seite.

Dass ihm führende Vertreter der SPD längst eine Wiederwahl zugesichert haben, spornt ihn erst recht an. Gewiss, das Amt verlangt viel ab, es verschleißt. Köhler, geboren 1943, ist in den vergangenen Jahren ziemlich gealtert. „Dünn, grau, fahrig“, beschreibt ein Mitarbeiter den Bundespräsidenten. Von gesundheitlichen Problemen Köhlers ist die Rede, während er sich zu einer zweiten Amtszeit entscheidet. An deren Ende wäre er immerhin 70 Jahre alt.

Liebeserklärung in der Bundesversammlung

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Aber Köhler kämpft. Der einstige Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) scheut Populismus dabei nicht. So wie er schon gegen die Finanzmärkte als „Monster“ zu Felde gezogen war, so dezidiert kapitalismuskritisch äußert er sich in seiner Berliner Rede im März 2009. Das beschert ihm zwei Monate später wohl manche rot-grüne Stimme in der Bundesversammlung. Köhler wird bereits im ersten Wahlgang im Amt bestätigt.

Anschließend durchbricht Köhler mit seiner kurzen Rede die etwas steife Veranstaltung. Vom Pult des Bundestages aus sucht er Blickkontakt zu seiner Ehefrau („Wo ist sie?“). Emotional bewegt, schließt er eine Liebeserklärung an, sympathisch und ein wenig ungelenk: „Und dir, Eva, möchte ich Danke sagen. Jede Stunde ist ein Geschenk mit dir.“

Vor allem aber wendet er sich ans Volk: „Ich freue mich auf die kommenden fünf Jahre, und ich verspreche Ihnen, liebe Landsleute, ich werde weiter mein Bestes geben.“

Schweigen prägt Köhlers zweite Amtszeit – bis es peinlich wird

Aber der Beginn seiner zweiten Amtszeit am 1.Juli 2009 fällt, ausgesprochen unglücklich, in die heiße Phase des Bundestagswahlkampfs. Köhler muss sich politisch zurückhalten, auch während und nach Bildung der schwarz-gelben Koalition, als deren Ankündiger und Aushängeschild er gilt.

Er schweigt aber auch aus anderen Gründen. Noch immer fehlt Köhler das zündende Projekt, thematisch gibt es nichts Neues. Köhler will schlicht „noch einmal“ fünf Jahre. Der miserable Start der schwarz-gelben Wunschkoalition desillusioniert den ersten Mann im Staate. Doch Köhler ist gewissermaßen das Abbild dieser Misere. Sein Schweigen wird im Bundespräsidialamt sorgenvoll registriert.

Ein einstiger Köhler-Mitarbeiter erlebt den Graben zwischen dem omnipräsenten Präsidenten in dessen Behörde und seiner wahren Bedeutung im Land so: „Wir lesen hier jeden Tag eine dicke Pressemappe. Wir nehmen jeden Termin, jede Äußerung des Bundespräsidenten rund um die Uhr wahr. Treffe ich Freunde, fragen die aber oft: Was macht Ihr da eigentlich den ganzen Tag?“

Der Bundespräsident ist nicht so unmittelbarer Kritik ausgesetzt wie ein operativ handelnder Politiker. Ein Minister, ein Parteivorsitzender bekommt Kritik direkt, ohne jeden Zeitverzug zu spüren. Dennoch wird Köhlers Zurückhaltung in dessen Umfeld längst kritisch betrachtet: „Es wird der Zeitpunkt kommen, wo das Schweigen auffällt“, prognostiziert ein Berater. Er kommt.

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Im März fragt die „Bild“ in der ihr eigenen Art und in dicken Lettern: „Wo ist eigentlich Super-Horst?“ Parteifreunde mokieren sich über das „Schlossgespenst“. In der Opposition ertönt der Ruf, Köhler möge doch einmal die Pannen und Peinlichkeiten der neuen Regierung aufspießen. Der „Präsident ohne Thema“ wird zum Allgemeingut.

Köhler verliert seinen Staatssekretär und einzigen Freund

Am 11.April 2010 stirbt Gert Haller, gerade einmal 65 Jahre alt. Der Öffentlichkeit ist Haller kaum bekannt, doch für Köhler stellt dessen Tod eine menschliche wie berufliche Zäsur dar. Er ist ein Wendepunkt von Köhlers Präsidentschaft. Über Jahrzehnte hinweg haben die beiden Männer zusammengearbeitet; sie haben sich als Kollegen im Bundesfinanzministerium kennen- und schätzen gelernt.

Haller ist Köhler auf vielen Posten im Finanzministerium nachgefolgt. Im März 2006 hat Köhler ihn zum Staatssekretär und Chef des Bundespräsidialamtes ernannt. Längst schwer erkrankt, zog sich Haller zum 30.September 2009 von diesem Posten zurück. „Haller war Köhlers vermutlich einziger Freund“, sagt ein Mann aus dem Präsidialamt.

Kein einziger Untergebener verliert ein schlechtes Wort über Haller. Als „Staatssekretär aus einer anderen Zeit“ und „Behördenchef alter Schule“ wird er beschrieben. Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, den Computer in seinem Büro abbauen zu lassen. Mails wurden ihm ausgedruckt. Haller pflegte die informelle Kommunikation: Er bat Mitarbeiter zum Gespräch, oft unter vier Augen. Dieses Zusammenspiel zwischen der Spitze des Amts und den Mitarbeitern kam an.

Haller verband mit Köhler eine emotionale Nähe, ihr Verhältnis war unverkrampft. Er betrachtete Köhler nicht als Vorgesetzten. Er war frei von jedem Opportunismus gegenüber Köhler. Stunden-, ja nächtelang diskutierten die beiden Volkswirte über die Finanzmärkte, schon weit bevor es zu deren Krise kam. Das Währungssystem oder der Welthandel, das waren Themen, für die sich beide begeistern und über die sie heftig streiten konnten.

Köhler ertrug Hallers Widerspruch. Er akzeptierte dessen Kritik. „Haller hatte Herz. Und er bot Köhler Paroli“, so beschreibt es ein einstiger Mitarbeiter. Hinzu kam: Haller kannte Köhlers ausgeprägte Emotionalität. Er konnte mit diesem weithin unbekannten Charakterzug Köhlers umgehen. Am 16.April wird Gert Haller in Heidelberg begraben. Der Vulkanausbruch auf Island hält Europa in Atem. Horst Köhler lässt sich mit dem Auto zu der Beisetzung bringen.

Neuer Staatssekretär Wolff verbreitet Angst in Bellevue

Nachfolger Hallers im Bundespräsidialamt ist seit dem 1.Oktober 2009 Hans-Jürgen Wolff. Seine Ernennung ist ein weiterer Wendepunkt. Mancher sieht einen Zusammenhang zwischen Wolffs Aufstieg und Köhlers Abstieg. Wer aber ist dieser Hans-Jürgen Wolff? Der damals 51-jährige Jurist war bis dato Leiter der Abteilung Inland.

So gering die Zahl von Kritikern Hallers war, so groß ist die Wolffs. Wolff kam unter Roman Herzog ins Bundespräsidialamt. Er machte sich rasch einen Namen als kluger Kopf, er gilt als ausgesprochen gebildet, gründlich und fleißig. Wolff formuliert präzise, druckreif. Die Arbeit an einer Rede gleicht bei Wolff einem Wettkampf um Texte. Der darf auch gern noch weit nach Mitternacht gekämpft werden, natürlich im Büro.

„Wolff ist ein brillanter intellektueller Kopf“, sagt ein ehemals Untergebener und fügt sogleich hinzu: „Als Führungskraft ist er eine Null.“ Ein anderer nennt Wolff nur „einen furchtbaren Staatssekretär“. Aus Wolffs Gesicht spricht eine gewisse Freudlosigkeit. Fröhlich oder gar feiernd kann man ihn sich nicht vorstellen. Er analysiert lieber kühl.

Wolff sagt von sich, er nehme die Welt aus Büchern wahr. Für Menschen interessiert er sich eigentlich nicht. Vielleicht ist all das nicht die beste Voraussetzung, 175 Mitarbeiter zu führen und einen zuweilen orientierungslosen Bundespräsidenten zu betreuen. Mit seinem schneidigen Ton herrscht im Bellevue ein Klima der Angst.

„Wolff strukturierte das Haus mit hartem Besen um, es herrschte eine katastrophale Stimmung“, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter. Wolff ist über das Thema „Kriegserklärung und Kriegszustand“ promoviert worden. Seine gesamte Diktion kommt militärisch daher. Er mag die Termini aus Kriegen und Schlachten. Köhler aber steht zu Wolff.

Wolff beginnt Großoffensive gegen Köhlers Sprecher Kothé

Kaum zum Staatssekretär berufen, beginnt Wolff eine Großoffensive im Präsidialamt. Sein Gegner heißt Martin Kothé und ist Sprecher des Bundespräsidenten. Wolff und Kothé könnten von ihrer Persönlichkeit her kaum unterschiedlicher sein. Kothé, der viele Jahre Fernsehjournalist war und dann Sprecher der FDP wurde, ist fröhlich und jovial.

Ein Schulterklopfer, geschätzt unter den Journalisten. Obgleich er oft viel redet, ohne etwas zu sagen. Das aber gehört zu seiner Stellenbeschreibung. Kothé hat Köhler vom Beginn seiner Präsidentschaft an sicher durch die Medienlandschaft navigiert.

Gern kooperierte er vor und während Besuchen des Präsidenten in deutschen Landen mit regionalen Medien. Kothé verschaffte Köhler damit zahlreiche Jubelberichte. „Er agiert dort, wo es einfach ist und nicht wehtut“, spottet einer aus dem Präsidialamt über Kothé. Die tendenziell kritischeren überregionalen Medien behandelte er weit weniger zuvorkommend.

Jenen für Köhler so wichtigen Kothé verbannt Wolff aus der sogenannten Morgenlage, die täglich um 9 Uhr im dritten Stock des ellipsenförmigen Präsidialamtes zusammentritt. Hier trägt ein Mitarbeiter des Bundespresseamtes vor, was die Zeitungen schreiben. Es geht dann um die Termine des Tages, um Pläne und Projekte.

Der Staatssekretär, die Abteilungsleiter, der Verbindungsoffizier, der Leiter des Grundsatzreferats, das persönliche Büro des Bundespräsidenten und eben dessen Pressesprecher nehmen bislang an der Runde teil. Wolff behagt dies nicht. Er schließt Kothé aus – ein einmaliger Vorgang – und ebenso das persönliche Büro Köhlers, jenen Mitarbeiterstab, über dessen Tische alle wichtigen Vorgänge gehen.

Köhler erfährt von dieser ungewöhnlichen Maßnahme. Er mischt sich nicht ein. Köhler versteht sich ausschließlich als Verfassungsorgan. Für Belange von Mitarbeitern des Amtes fühlt er sich nicht zuständig. Diese Selbstsicht entspricht der räumlichen Zuordnung: Köhler arbeitet im Schloss Bellevue, seine Leute im Bundespräsidialamt, gut 100 Meter entfernt. Köhler entscheidet sich gegen ein beherztes Eingreifen zugunsten Kothés.

Absolutistische Instanz oder Bürgerpräsident?

Der Machtkampf zwischen Wolff und Kothé wäre eine Petitesse, verbärge sich dahinter nicht eine Schlacht um die grundsätzliche Ausrichtung von Köhlers Präsidentschaft, die erst, ginge alles gut, am 30.Juni 2014 enden wird.

Abermals treffen grundsätzliche Richtungsentscheidungen aufeinander: Wolff versteht Köhler als den einen über allen schwebenden Bundespräsidenten, als eine absolutistische Instanz. Er will ihn als Monarchen inszenieren, der nichts Erdverbundenes an sich hat. Er will den elitären Präsidenten. Er will das Prestige des Amtes betonen. Er will Distanz. Er setzt auf die Macht des Wortes, obwohl genau dies nicht Horst Köhlers Stärke ist.

Wolffs Gegenspieler Kothé hegt komplett andere Pläne. Sein Konzept sieht den Bürgerpräsidenten vor. Er möchte Horst Köhler als Präsidenten zum Anfassen inszenieren. Als einen Menschen, von dem das Volk sagt: Er ist einer von uns. Kothé hat es mit diesem Plan in den vergangenen Jahren weit getrieben, durchaus mit Erfolg; Köhlers Popularitätswerte sind sein Gradmesser, noch viel mehr als das anständige Ergebnis der Wiederwahl.

Köhler genießt die Zustimmung des Volkes, etwa während seiner Besuche im Lande, wo Deutschlandfähnchen geschwenkt werden und Autogramme gefragt sind. „Grüß Gott! Wie geht‘s?“, ruft Köhler und zieht dann weiter, bevor die Bürger antworten. Er aber schöpft Kraft aus dieser Anerkennung.

Kothé weiß um die Vorbehalte des Volkes gegen „die Politik“. Er selbst teilt diese inzwischen, zumindest ansatzweise. Köhler hat gerade mit seiner Distanz zu „der Politik“ und „den Politikern“ Sympathien gewonnen und sich gleichzeitig von der politischen Klasse entfremdet.

Auch der Kapitalismuskritiker Köhler wurde von Kothé „erfunden“. Geradezu begeistert orchestrierte er Köhlers populistische Kritik an den „Monster“-Finanzmärkten, etwa in seiner Berliner Rede. Sie löste ein positives Echo aus. Wolffs Entwurf hingegen ließ Köhler links liegen. Im Jahr zuvor hatte Wolff die Berliner Rede verfasst. Bei ihr handelte es sich um eine unkonsumierbare Vorlesung. Das Echo: bescheiden.

Köhlers Reden lassen ganz Bellevue ächzen und stöhnen

Die Reden und der Präsident – über wenige Dinge wird im Bellevue so sehr gestöhnt und geächzt wie über dieses Thema. Die Geburt einer Köhler-Rede dauert lange. Sie gestaltet sich zumeist qualvoll. Bis zu 15 Entwürfe lässt sich Köhler liefern. Seine verzweifelten Appelle („Helft mir doch, schreibt mir was auf!“) sind gefürchtet. Gleiches gilt für die jähzornigen Ausbrüche des Präsidenten. Immer öfter zeigt sich Köhler dünnhäutig. Während er nach außen schüchtern, ja unsicher wirkt, agiert er intern aufbrausend.

Die eigentliche Wirkungsmacht des – formal machtlosen – Bundespräsidenten besitzt Köhler nicht. Mancher Auftritt wirkt gekünstelt. Köhler ist mehr ein Zahlenmensch denn ein Mann des Wortes. Er ist eher ein Macher denn ein Redner, mehr Technokrat als Philosoph. Die persönliche Autorität durch Wort oder Intellekt fehlt ihm.

Sicher und rhetorisch versiert zeigt sich Köhler nur bei den ihm vertrauten wirtschaftlichen Themen, speziell wenn es um den IWF geht. Doch wann äußert sich ein Bundespräsident schon mal zum IWF? Das Gros seiner Reden findet wenig Beachtung, es landet zur Verzweiflung der Mitarbeiter im medialen Nirwana.

Indem er einem Gesetz die Unterschrift verweigert oder mit Interviews, zumal im Fernsehen, erreicht Köhler viel mehr. Vor allem wenn er wieder einmal gegen „die Politik“ austeilt oder bemängelt, die Parteien ergingen sich in „Sandkastenspielen“. Köhler inszeniert sich gern als Antipolitiker. Das kommt im Volk an. Im März 2010 gibt Köhler dem „Focus“ ein eher langes als großes Interview.

Zum Thema seiner neuen Präsidentschaft oder zu einem philosophischen Überbau findet sich darin nichts. Statt langer Linien widmet er sich dem Klein-Klein der Tagespolitik. So verlangt er: „Wir sollten zum Beispiel darüber nachdenken, ob der Preis von Benzin nicht tendenziell höher als tendenziell niedriger sein sollte.“ Bis dato war die Benzinpreisfindung kein Thema eines Bundespräsidenten gewesen.

Exodus im Präsididalamt – Mitarbeiter verlassen den Präsidenten

Nach und nach verlassen etliche Mitarbeiter den Bundespräsidenten. Ab Ende 2009 verzeichnet das Präsidialamt einen regelrechten Exodus. Redenschreiber wenden sich genervt ab. Der Leiter des Grundsatzreferats geht. Anfang 2010 setzt eine regelrechte Welle ein. Der Protokollchef flieht, der Chef der Personalabteilung wird versetzt. Die Leiter der Referate für Bildung/Forschung, Wirtschaft und Inneres gehen. Zum 30.April 2010 verlässt Kothé das Amt.

Damit hat Köhler in seinem Apparat keinen Vertrauten mehr. Schon zuvor mangelte es im Bundespräsidialamt an Vertrauen. Schon zuvor war es schwierig, Widerstand zu leisten. Nun aber fehlt jedwede Vertrauensbasis. Es herrscht „Aufruhr im Schloss“, so steht es über einem Artikel im „Spiegel“.

Kritische Würdigungen der Bundespräsidenten hat es seit jeher gegeben. Eine neue Qualität aber haben die diversen treffenden Schilderungen über das Innenleben des Präsidialamtes in den Medien. Selbst Gespräche in kleinsten Runden dringen nach außen. Das Misstrauen wächst.

Dabei genoss das kleine, überschaubare Bundespräsidialamt jahrzehntelang ein nobles, elitäres Image. Seine Mitarbeiter empfanden es als Ehre, für das Staatsoberhaupt zu arbeiten. Es herrschte Teamgeist. Mancher höchst qualifizierte Mitarbeiter blieb, obwohl er anderswo mehr Geld hätte verdienen können.

Dieser Stolz aber ist Anfang 2010 passé. Das Amt wirkt entzaubert. Dabei wären die 30 bis 40 Mitarbeiter an sich als ganz unbehördliche Denkfabrik geeignet. Der Apparat, gerade einmal so groß wie die Unterabteilung eines Ministeriums, könnte den Präsidenten mit Kreativität und Lebenserfahrung geleiten. Das aber ist mit dem Technokraten Wolff unmöglich geworden.

Das Umgarnen von Unternehmern und Journalisten ist ihm fremd

Ein sichtbar angeschlagener Bundespräsident reist am 16.Mai 2010 für fünf Tage nach China. Es ist kurz nach 20 Uhr, der Luftwaffen-Airbus A 310 „Theodor Heuss“ ist in Berlin-Tegel gestartet und fliegt über Stettin, während sich Köhler im legeren Pullover der 20-köpfigen Wirtschaftsdelegation zuwendet.

Kurz schüttelt er jedem die Hand, dann wagt der Präsident einen kurzen Blick in die Holzklasse, wo Journalisten und Sicherheitsbeamte sitzen: „Allseits guten Flug und ein gutes Zusammensein“, sagt Köhler. Das war‘s. Köhler ist nie ein Politiker gewesen. Er hat für kein parlamentarisches Mandat gekämpft, geschweige denn auf einem Parteitag gesprochen.

Köhlers Vorgänger von Theodor Heuss bis Johannes Rau waren einst Ministerpräsidenten oder Bundesminister. Horst Köhler war Beamter, Chefunterhändler, Staatssekretär. Das Umgarnen von Unternehmern und Journalisten ist ihm fremd. In Peking wird Köhler von Präsident Hu Jintao als „alter Freund des chinesischen Volkes“ begrüßt.

Asien-Reise wird von Nachricht aus der Heimat überschattet

Abends, beim Hintergrundgespräch mit den Journalisten, zeigt Köhler, was ihn interessiert und was ihn bewegt: China wolle seinen Export diversifizieren und die „Carbon-Intensität“ seiner Wirtschaft reduzieren, referiert er. Die deutschen Journalisten interessieren sich indes jetzt für eine ganz andere Nachricht.

Während sie nach Peking gereist sind, hat das Bundespräsidialamt die heimischen Redaktionen informiert, Köhler habe das Gnadengesuch der RAF-Terroristin Birgit Hogefeld abgelehnt . Nach dem Abgang Kothés führt ein junger Mann die Geschäfte des Pressesprechers, auch während dieser Reise. Er agiert in der sehr schwierigen Lage und dem allgemeinen Chaos verbindlich, zuverlässig und offen. Auch der Pressesprecher wird in Peking von der Hogefeld-Meldung überrascht.

Es ist wohl der mitreisende Staatssekretär Wolff gewesen, der jene Nachricht hat veröffentlichen lassen. Es passt ins Bild, dass er mit niemandem darüber gesprochen hat. Nun muss Köhler gegen den politischen Komment verstoßen und sich im Ausland zur Innenpolitik äußern. „Ich habe mich am Sonntag entschieden, und das ist das Ergebnis“, sagt er zur Causa Hogefeld. Für seinen China-Besuch interessieren sich die Redaktionen in Deutschland derweil nur bedingt.

Affront gegen die Menschenrechts-Politik der Bundesregierung

Köhler offenbart sich in China als angeschlagen, als angegriffen, als angezählt. Während der Gespräche mit den Journalisten, die Köhler in China führt, wechselt er zuweilen im Minutentakt die Geschäftsgrundlage. Mal redet er „unter eins“. Diese unter Politikern und Journalisten übliche Formel bedeutet, dass der Inhalt samt Quelle wiedergeben werden darf.

Dann aber stellt Köhler Teile seiner Gespräche „unter drei“ – und gibt damit Dinge zum Besten, über die nicht berichtet werden darf, die also allein für den Hinterkopf der Korrespondenten gedacht sind. Kündigt sein Sprecher ein Gespräch als „unter drei“ an, fährt Köhler ihm sogleich über den Mund: „Wir reden jetzt unter eins.“

Über das Thema Menschenrechte lässt sich Köhler in Peking „unter eins“ aus. Er ist der Ansicht, die Europäer sollten „nicht als Besserwisser auftreten“. Köhler verwendet für diese Auffassung zahlreiche Formulierungen: Wir sollten nicht schurigeln, nicht belehren, weniger eurozentrisch argumentieren.

Es bringe nichts, erklärt er gar, sich „auf eine öffentliche Bühne zu stellen“, die Menschenrechte „prachtvoll und mächtig“ zu benennen, damit einen „daheim jeder loben kann“. Diese Worte sind mit Blick auf das autoritäre Regime in Peking mehr als nur fragwürdig. Daneben stellen sie einen Affront gegen die Politik der Bundesregierung dar; diese thematisiert die Menschenrechte sehr wohl. Es handelt sich nicht zuletzt um eine Kritik an Angela Merkel .

Erkaltetes Verhältnis zwischen Köhler und Kanzlerin

Das Verhältnis zwischen Präsident und Kanzlerin gilt längst als erkaltet. Am 18.Mai, die China-Reise dauert an, berichtet die „Süddeutsche Zeitung“ auf ihrer Titelseite über neue Verstimmungen zwischen Merkel und Köhler sowie dessen Personalprobleme. Es heißt dort, Merkel und Köhler seien gemeinsam mit einem Bundeswehr-Airbus zur Amtseinführung des neuen Verfassungsgerichtspräsidenten nach Karlsruhe geflogen.

Am Flughafen angekommen, sei erst die Kolonne der Kanzlerin losgefahren, hernach Köhlers Kolonne, weil dieser Wert darauf gelegt habe, als Letzter einzutreffen. Manchmal verstößt der Präsident ungeniert gegen das Protokoll. Fühlt er sich aber unsicher oder unwohl, klammert er sich an die knöchernen, trockenen Paragrafen des Protokolls.

Das Bundespresseamt mailt und faxt alle wichtigen Artikel an Köhler, wenn sich dieser auf Reisen befindet. So erreicht der Text mit der launigen Überschrift „Köhler allein zu Haus“ das Pressezentrum im Hotel „Westin Beijing Chaoyang“. Dort stößt er sogleich auf reges Interesse. Sogar die sonst so loyalen Botschaftsmitarbeiter mokieren sich über Köhler. Respekt vor dem Staatsoberhaupt sieht anders aus.

In Shanghai besucht Köhler die Expo, doch die jungen Leute von der deutschen Schule jubeln mehr dem ebenfalls anwesenden Rudi Völler zu als ihrem Präsidenten. Im Hotel beklagt sich Köhler am Tag darauf vor den Journalisten: „Mir wird ja jeder Satz im Munde umgedreht.“ Die Pressevertreter hielten sich nicht an Verabredungen, moniert er und stößt auf Unverständnis.

Köhler besucht Soldaten in Afghanistan

Am 21.Mai soll es von Shanghai zurück nach Berlin gehen, ein Zwischenstopp in Nowosibirsk ist vorgesehen; das Regierungsflugzeug aus Beständen der DDR muss dort aufgetankt werden. Schon Tage zuvor ist aus Deutschland aber die Nachricht durchgesickert, Köhler werde auf dem Rückflug erstmals die deutschen Soldaten in Afghanistan besuchen. Derlei Reisen werden aus Sicherheitsgründen nicht offiziell bekannt gemacht. Das Präsidialamt jedoch nimmt diese Maßgabe so ernst, dass die überschaubare Schar der acht den Präsidenten begleitenden Journalisten keine Hinweise erhält.

Auf den Bordkarten ist als Ziel des ersten Fluges vermerkt: Nowosibirsk. Kurz nach dem Start meldet sich Horst Köhler zu Wort, über den Lautsprecher des Luftwaffen-Airbus: „Ich bitte um Aufmerksamkeit. Hier spricht der Bundespräsident.“

Köhler liebt diese Art, sich an seinen Tross zu wenden. Er kündigt an, man fliege nun nach Termez, zum deutschen Feldlager in Usbekistan. Von dort werde er zusammen mit seiner Frau nach Afghanistan fliegen, um „unseren Soldatinnen und Soldaten und den zivilen Aufbauhelfern unsere Unterstützung zuzusprechen“.

Mit der Transall „Else“ fliegen die Köhlers, begleitet von wenigen Mitarbeitern und Sicherheitsbeamten, von Termez gen Masar-i-Scharif. Nach dem halbstündigen Flug landet man gegen 16.20 Uhr Ortszeit. Drei Stunden lang wird sich Köhler hier aufhalten. „Ich ermutige jeden von Ihnen, mit mir zu sprechen, als hätten Sie einen Kameraden vor sich“, appelliert der Bundespräsident an die Soldaten. Er wolle „hören, was Sie bewegt“. Es ist heiß. Horst Köhler trinkt Wasser. Er schwitzt. Er wirkt unzufrieden.

Der einstige Zeitsoldat fragt die Männer, ob sie zuversichtlich in ihren Einsatz gingen. Niemand antwortet. Dann stellt Köhler einem amerikanischen Soldaten die gleiche Frage. Der antwortet, er glaube schon, man könne gegen die Taliban gewinnen. Daraufhin wendet sich Köhler mit einem vorwurfsvollen Unterton erneut an die deutschen Soldaten: „Warum höre ich das nicht von Ihnen?“

Im Grunde kopiert Köhler damit einen Satz, den sein Vorgänger Theodor Heuss im Jahr 1958 deutschen Rekruten zurief: „Nun siegt mal schön!“ Heuss‘ Worte indes waren scherzhaft gemeint. Dass Amerikaner und Deutsche unterschiedliche militärische Traditionen, Philosophien und Mentalitäten besitzen, kommt Köhler nicht in den Sinn.

Die Köhlers fliegen mit der „Else“ zurück nach Termez. Dann geht es mit der „Theodor Heuss“ nach Berlin. Alle Beteiligten sind ermüdet. In der engen Besprechungskabine gewährt Köhler bei lautem Motorenlärm ein letztes Hintergrundgespräch. Anschließend gibt Köhler dem Deutschlandfunk-Korrespondenten Christopher Ricke ein Interview. Es ist Usus, dass sich der Präsident am Ende seiner Auslandsreisen einem Radiosender stellt.

Hier, 10000 Meter über den Weiten Russlands, formuliert Köhler seinen verunglückten Bandwurmsatz. Er lautet: „Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen negativ zurückschlagen, bei uns durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern.“

Köhler fehlen Mitarbeiter, die ihn schützen können und sollen

Weder der Verbindungsoffizier noch Köhlers außenpolitische Experten sind während des Interviews zugegen. Ein Mitarbeiter vom Format Kothés hätte Köhler am Ende dieses aufreibenden Tages womöglich ganz von dem Gespräch abgeraten oder wenigstens den strittigen Satz eingefangen. Nun aber fehlen Mitarbeiter, die berufen sind und sich berufen fühlen, Köhler zu schützen.

Es zeigt sich auf brutale Weise, wie einem Präsidenten, der sich verschlissen hat, das nötige Umfeld weggebrochen ist. Christopher Ricke kehrt nach dem Interview zu seinen Kollegen zurück. „Hat er was Neues gesagt?“, fragen die ihn und erwarten jene Auskunft, die Ricke sogleich gibt: „Nein. Nichts Neues.“

Wohl fast jeder andere Kollege hätte zu dieser späten Stunde so geantwortet, mithin Köhlers Worte nicht verstanden. Am nächsten Tag, am Morgen des 22.Mai, wird das Interview ausgestrahlt. Lediglich die Variante für das Deutschlandradio Kultur aber enthält die umstrittene Passage, in der Fassung für den Deutschlandfunk fehlt sie.

„Der Kollege beim Deutschlandfunk, der das Band bearbeitet hat, erkannte wohl die Brisanz nicht. Der hat einfach nur schnell gekürzt“, heißt es später. Agenturmeldungen zu dem Interview titeln: „Köhler verlangt mehr Respekt für deutsche Soldaten.“ Wer wollte da widersprechen?

Sprengkraft des Interviews wird erst den Lesern bewusst

Deutschland genießt das Pfingstwochenende, und Köhlers Interview „versendet sich“, wie Radioleute gern sagen. Jonas Schaible aber hat den genauen Wortlaut studiert. Der Tübinger Student betreibt die Internetplattform www.beim-wort-genommen.de – und darauf vermerkt er am 25.Mai, Köhler sage im Grunde: „Deutschland muss seine Interessen wahren. Dazu ist im Notfall auch Einsatz des Militärs notwendig.“

Er resümiert: „Die Sprengkraft, die diesem Zitat innewohnt, ist riesig.“ Schaible beklagt: „Bliebe noch die Frage, warum die Medien nicht auf Köhlers Aussagen reagieren.“ Schaible wendet sich per Mail an etliche Redaktionen. Am Tag darauf schreibt er in dieser Sache an alle Bundestagsfraktionen. Der Deutschlandfunk indes, der das Interview auf seiner Homepage samt der strittigen Passage zum Nachhören und Nachlesen aufbereitet hat, erhält Zuschriften nicht nur von Schaible.

Plötzlich gewinnt die Sache an Dramatik. Am Morgen des 27.Mai verliest Deutschlandfunk-Moderator Tobias Armbruster einige Mails zum Interview mit dem Bundespräsidenten. In einer heißt es: „Ist ja wirklich harter Tobak, was der Köhler da loslässt. Wir bomben uns zum Exportweltmeister.“

Armbruster spielt die entsprechende Passage von Köhlers O-Ton ein und konfrontiert damit Ruprecht Polenz (CDU), den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses. Polenz ist konsterniert, versucht sich aber verbal zu zügeln, indem er sagt: „Ich glaube, der Bundespräsident hat sich hier etwas missverständlich ausgedrückt. Er wollte keine neue Militärdoktrin für Deutschland verkünden.“ Der Moderator hakt nach, und Polenz spricht von „keiner besonders glücklichen Formulierung, um es vorsichtig auszudrücken“. Mit der Kritik aus den eigenen Reihen bricht ein Damm.

Opposition erwacht und geht auf Köhler los

Am Donnerstag nach Pfingsten wacht das politische Berlin auf. Die Opposition ist plötzlich entsetzt. Der grüne Fraktionsvorsitzende Jürgen Trittin ätzt: „Wir brauchen weder Kanonenbootpolitik noch eine lose rhetorische Deckskanone an der Spitze des Staates.“ Trittin legt später nach: „Man möchte zu seinen Gunsten annehmen, dass er sich bei diesen Worten auf den Pfaden seines Vorgängers Heinrich Lübke vergaloppiert hat.“

SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann assistiert: „Wir wollen keine Wirtschaftskriege.“ Außenminister Guido Westerwelle (FDP) nimmt den Bundespräsidenten immer in Schutz, sobald sich Kritik regt – unabhängig von dem, was Köhler wieder einmal gesagt hat. Nun beklagt Westerwelle ein „bewusstes Missverstehen“ durch die Opposition. Angela Merkel weilt in Katar und Bahrain. Sie lehnt einen Kommentar ab.

Die Bundesregierung aber ist durch die Kritik aus dem eigenen Lager alarmiert. Ein Vertreter der Regierung verweist Köhlers Sprecher auf das Weißbuch der Bundeswehr von 2006, in dem es heißt: „Deutschland...hat ein elementares Interesse an einem friedlichen Wettbewerb der Gedanken, an einem offenen Welthandelssystem und freien Transportwegen.... Deutsche Sicherheitspolitik beruht auf einem umfassenden Sicherheitsbegriff. Risiken und Bedrohungen muss mit einem abgestimmten Instrumentarium begegnet werden. Dazu gehören diplomatische, wirtschaftliche, entwicklungspolitische, polizeiliche und militärische Mittel, wenn geboten, auch bewaffnete Einsätze.“ Das Fazit des Regierungsvertreters: Köhler hat die offizielle Politik korrekt, wenngleich ungeschickt wiedergegeben.

Köhler aber ärgert sich über sich selbst. Er ist regelrecht sauer über die eigenen Worte. „Da habe ich einen Fehler gemacht, da habe ich einen Fehler gemacht“, soll er immer wieder gesagt haben, heißt es in seinem Umfeld. In einer Pressemitteilung lässt Köhler seine Ausführungen „präzisieren“.

Darin heißt es: „Diese Äußerung des Bundespräsidenten bezieht sich auf die vom Deutschen Bundestag beschlossenen aktuellen Einsätze der Bundeswehr wie zum Beispiel die Operation Atalanta gegen Piraterie.“ Von Atalanta, einer Mission der EU vor der Küste Somalias, war während des Interviews keine Rede. Und war nicht der Besuch in Afghanistan wenige Stunden zuvor Anlass jenes Gesprächs?

Keine Rückendeckung aus der Koalition

Angela Merkel schweigt weiterhin, und auch sonst erfährt Köhler keine Rückendeckung aus der Koalition. Die Kanzlerin als Vertreterin des Verfassungsorgans Bundesregierung äußere sich nicht zu Interviews und Stellungnahmen des Verfassungsorgans Bundespräsident, teilt Regierungssprecherin Sabine Heimbach kühl mit.

Schon am Wochenende verebbt die Kritik an Köhler, den Rücktritt des Bundespräsidenten verlangt bei alldem nicht einmal die Opposition; die Partei Die Linke bejubelt gar Köhler ob seiner „Ehrlichkeit“. Die „Welt am Sonntag“ widmet sich unter dem Titel „ Pannen-Serie beim Präsidenten“ den diversen Problemen im Hause Köhler. „Ein Kommunikationsproblem jedenfalls hat der Bundespräsident“, heißt es darin: „Die jüngsten Äußerungen sind nur eine von etlichen Pannen in den vergangenen Monaten.“

Am Vormittag dieses Sonntags erhält Köhler zudem ein Vorabexemplar des „Spiegel“. Darin findet sich ein Text unter der ziemlich bösen Überschrift: „Horst Lübke“. Damit spielen die Autoren auf den früheren Bundespräsidenten Heinrich Lübke an, der in den letzten Jahren seiner Amtszeit krank und einigermaßen verwirrt war („Liebe Negerinnen und Neger!“). Wie bloß solle Köhler die restlichen vier Amtsjahre überstehen, fragt der „Spiegel“. Und: „Was bringt eigentlich ein Präsident, der nicht einmal unfallfrei reden kann?“

Horst Köhler lässt sich an diesem Sonntag ins Schloss Bellevue fahren. Während einer Matinee wird das von ihm herausgegebene Buch „Schicksal Afrika“ präsentiert. Köhler zeigt sich gut gelaunt. Einen Interviewtermin allerdings sagt er kurzfristig ab. In seiner letzten öffentlichen Äußerung geht Köhler auf den Erfolg Lena Meyer-Landruts beim Eurovision Song Contest in Oslo ein. Er sagt: „Ihr Auftritt war unglaublich kraftvoll, frisch und authentisch.“ Kraftvoll, frisch, authentisch – vielleicht verwendet Köhler unbewusst Worte, die er gern für sich selbst in Anspruch nähme.

Kritische Presse bringt das Fass zum überlaufen

In welcher Stimmung Horst und Eva Luise Köhler den Sonntagabend verbringen, darüber kann nur gemutmaßt werden. Einiges aber spricht dafür, dass es schon länger in Köhler gärt und er bereits mehrfach an Rücktritt dachte. Das Fass ist gewissermaßen gut gefüllt. Am Sonntag wird das Medienecho zum letzten Tropfen, der es überlaufen lässt.

Eva Luise Köhler, der schon Jahre zuvor eine Abneigung gegenüber einer zweiten Amtszeit nachgesagt wurde, dürfte ihren Mann in dieser Sicht der Dinge bestärken. Den Rücktritt habe man „gemeinsam getragen“, sagte sie vor wenigen Wochen. Hätte Eva Luise Köhler ihrem Ehemann widersprochen, wäre er wohl nicht so plötzlich diesen Weg gegangen. Das Ehepaar Köhler verbindet eine innige Zuneigung.

„Die kritische Presse hat ihn verletzt“, sagt ein ihm Nahestehender. Womöglich war es Köhler ein Anliegen, dass mit seinem Rücktritt zu diesem Zeitpunkt die Präsidentenwahl auf Dauer wie gewohnt am 23.Mai, dem Geburtstag des Grundgesetzes also, stattfinden kann. Traditionsdaten prägen schließlich das staatspolitische Gefüge. Ein weiteres Zaudern, ein späterer Rücktritt hätte diese Tradition zerstört.

Unplausibel sind Mutmaßungen, Köhler habe die Euro-Rettung nicht mit verantworten wollen. Zum einen unterzeichnete er jenes Gesetz wie von der Regierung erwünscht sehr schnell, nämlich wenige Stunden nach seiner Rückkehr. Zum anderen lobte der Finanzfachmann Köhler jenes Rettungspaket intern wie öffentlich als richtig.

Köhler zu Böhrnsen: „Sie müssen die Amtsgeschäfte übernehmen.“

Am 31.Mai 2010 deutet während der Morgenlage im Präsidialamt, wie üblich ohne Köhler, nichts auf einen ungewöhnlichen Tag – wenngleich die Runde aufgrund des umfangreichen, miesen Medienechos recht lange dauert. Der Leitungsstab tagt ebenso in Routine.

Am späten Vormittag versucht Köhler, die Bundeskanzlerin anzurufen. Als er sie zunächst nicht erreicht, lässt er sich zu Jens Böhrnsen (SPD), dem Bremer Bürgermeister, durchstellen. Böhrnsen ist Präsident des Bundesrates, er vertritt den ersten Mann im Staate. Köhler teilt ihm seine Rücktrittsabsicht mit: „Sie müssen die Amtsgeschäfte übernehmen.“

Kurz vor 12 Uhr erhält Merkel die Nachricht eines dringenden Anrufs. Die Kanzlerin verlässt das CDU-Präsidium, das an diesem Tag über Sparmaßnahmen im Bundeshaushalt und den jüngsten Rückzug des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) berät.

Merkel verschwindet, kommt zurück und verlässt später noch einmal den Raum. In der CDU-Führung lässt sie sich nichts anmerken. Sie sagt nichts. Später verbreitet ihr Umfeld, die Kanzlerin habe vermeiden wollen, dass Köhlers Rücktritt vor dessen eigener Erklärung bekannt würde.

Nachdem sich Köhler erklärt hat, sagt Merkel, sie habe Köhler umzustimmen versucht: „Das ist leider nicht gelungen.“ Noch vor Köhlers Auftritt informiert Merkel ihren Stellvertreter an der Spitze der CDU, den niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff, über Köhlers Rückzug. Er bittet seine Staatskanzlei per SMS darum, einige würdigende Sätze zu verfassen.

Westerwelle versucht, Köhler vom Rücktritt abzuhalten

Gegen 12.15 Uhr telefonieren Köhler und Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP). In dessen Wohnung ist der Präsident Köhler im Jahr 2004 ausgekungelt worden. Westerwelle ist erschrocken, als er Köhlers Worte vernimmt. „Sind Sie krank? Ist etwas mit Ihrer Frau?“, fragt er den Bundespräsidenten.

Der verneint, beklagt sich aber über „maßlose Kritik“ an seiner Amtsführung. Darüber müsste Westerwelle eigentlich schmunzeln. Er hat schon mehr als einige kritische Zeitungsartikel überstanden. Später ruft Westerwelle Köhler noch einmal an, um ihn von seinem Schritt abzuhalten.

Ohne Erfolg. Köhler bestellt seinen Staatssekretär Wolff ein und informiert ihn über seine Rücktrittsabsicht. Wie auch immer dieses Gespräch verlaufen sein mag: Hans-Jürgen Wolff ist es jedenfalls nicht gelungen, seinen Präsidenten vom Rücktritt abzuhalten.

Dies kommt einer politischen Bankrotterklärung gleich. Juristisch fragwürdig ist Köhlers Ansinnen ohnehin. Kann ein Bundespräsident eigentlich zurücktreten, und dann sogleich „mit sofortiger Wirkung“? Fassungslos, unter Schock stehend, noch blasser als üblich, irrt Wolff später durch das Bellevue-Anwesen. „Unglaublich, unglaublich…“, murmelt Wolff am Nachmittag vor sich her.

Dass Köhler in Regierung und Opposition Freunde oder Verbündete fehlen, ist schon immer ein Problem gewesen. Nun besitzt er auch im eigenen Arbeitsumfeld keine engen Vertrauten mehr, Menschen also, die ihn kennen und die ihm, ohne Angst zu haben, widersprechen. Niemand ist mehr da, der Köhlers Emotionalität auffängt, der seinem Wankelmut beherzt begegnet. Dieses Defizit wird nun zum Desaster.

Köhlers Rücktritt lässt Reporter ratlos zurück

Um 12.25 Uhr versendet die Pressestelle des Bundespräsidialamtes eine Mail, die zu Spekulationen einlädt. „Bundespräsident Horst Köhler tritt heute um 14 Uhr in Schloss Bellevue vor die Presse“, heißt es darin. Eine „Presse-Erklärung“ wird angekündigt, nicht also eine Pressekonferenz. Fragen sind offenbar nicht vorgesehen. Ein Novum.

Normalerweise werden Termine des Bundespräsidenten mindestens mehrere Tage zuvor angekündigt. Längst nicht alle Redaktionen schaffen es, ihn zu besetzen. Einen Rücktritt Köhlers schließen Parlamentskorrespondenten mit jahrzehntelanger Erfahrung aus: „So etwas hat es noch nie gegeben“, meint einer auf dem Weg ins Schloss. Ein Mitarbeiter Köhlers aber besitzt eine Vorahnung: „Ich habe ein dummes Gefühl.“

Gegen 13.45 Uhr betreten die Journalisten den Langhans-Saal. Der Sprecher Köhlers ist zugegen, er verneint die Frage eines Korrespondenten, ob der Präsident zurücktrete. Er weiß es nicht besser. Am Rande verfolgt Petra Diroll , die einstige ARD-Korrespondentin, die Szenerie. Sie ist in Bellevue als Zaungast erschienen, will sie doch am darauffolgenden 1. Juni ihr Amt als Pressesprecherin des Bundespräsidenten antreten.

Um 14 Uhr betritt das Präsidentenpaar den Saal. „Meine Äußerungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr am 22. Mai dieses Jahres sind auf heftige Kritik gestoßen“, setzt Horst Köhler an und legt den ersten Zettel zur Seite. Es folgt eine Pause. Köhler bedauert, dass seine Äußerungen zu „Missverständnissen führen konnten“.

Eigene Fehler gibt er damit nicht zu. Er beklagt Unterstellungen, er „befürwortete Einsätze der Bundeswehr, die vom Grundgesetz nicht gedeckt wären“. Über mangelnden Respekt für „mein Amt“ beschwert sich der Präsident.

„Rücktritt! Rücktritt“, rufen zahlreiche Reporter in ihre Mobiltelefone, kaum dass Köhler dieses Wort in den Mund nimmt. Die Erklärung des Bundespräsidenten lässt selbst hartgesottene, nie um einen Spruch verlegene Korrespondenten ratlos zurück.

Die Suche nach dem Nachfolger beginnt

Es regnet. Noch befindet sich die Dienststandarte an dem schwarzen Mercedes des Präsidenten, der samt Fahrer im Regen vor dem Schloss wartet. Bevor sich Horst Köhler nach Dahlem bringen lässt, wird sie abgenommen. Köhler ist nun Altbundespräsident. Das Protokoll gewährt Trost: Es ist üblich, ihn weiterhin mit „Herr Bundespräsident“ anzureden.

„Auf das Allerhärteste“ bedauert die Kanzlerin Köhlers Rücktritt. Aber verurteilt sie diesen Entschluss nicht eher aufs Allerschärfste? Nach ihrem Statement zu Köhler verliert Merkel noch einige Worte zur Lage in Israel. Das Leben geht weiter.

Einen ihrer schönsten Termine aber, den Besuch bei der Fußball-Nationalmannschaft in Montiggl bei Bozen (Südtirol), muss die Kanzlerin aus Pietät absagen. Abends, im Fernsehen, pariert Merkel die Frage, was der Rückzug des ersten Mannes im Staate für sie bedeute: „Wie sagt man so schön? Der Mensch wächst mit seinen Herausforderungen.“

Guido Westerwelle darf in seiner Reaktion noch einmal Köhler hochleben lassen. „Ich bedaure die Entscheidung des Bundespräsidenten aus vollem Herzen“, sagt er. Die Opposition bedauert ebenso. Vor allem aber beginnt in allen Parteien die Suche nach einem Nachfolger . Köhler wird Mitte Juni 2010 mit Großem Zapfenstreich im Park des Schlosses Bellevue verabschiedet.

Er wünscht sich den melancholischen „St. Louis Blues“ und den Choral „Ich bete an die Macht der Liebe“. Er verabschiedet sich von seinen Mitarbeitern und lässt sie wissen: „Ich habe die Entscheidung getroffen, die ich für richtig hielt und weiter für richtig halte.“

Köhler bereut den Rücktritt nicht – sagt er

Mit Köhlers Abgang wird Hans-Jürgen Wolff in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Er zählt zu den am kürzesten amtierenden Staatssekretären der Republik. Sein Nachfolger Lothar Hagebölling ist im Präsidialamt beliebt, die Tür zu seinem Büro ist meistens geöffnet. Martin Kothé leitet bereits seit dem 1.Mai 2010 das Berliner Büro der Kommunikationsberatung Financial Dynamics.

Das Ehepaar Köhler räumt nach dem Rücktritt die Dienstvilla in Dahlem und bezieht eine Altbauwohnung in der Nähe des Kurfürstendamms. Horst Köhler absolviert das goldene Sportabzeichen (50 Meter in 8,3 Sekunden). Er bezieht ein Büro an der Friedrichstraße, wo schon Johannes Rau ein Büro besaß. Das Haus gehört dem Sparkassen- und Giroverband, gewissermaßen kehrt Köhler also zu seinen Wurzeln zurück.

Die Köhlers besuchen die Basilika in Ottobeuren, sie wandern mit dem Ehepaar Waigel im Allgäu. Sie reisen nach Norderney. Horst Köhler wird informeller Berater der französischen Regierung. In den USA wirkt er in einer Arbeitsgruppe zur Reform des Weltwährungssystems mit.

An seiner einstigen Universität, in Tübingen, hält Köhler eine Rede über „Die Reform des internationalen Währungssystems als Projekt kooperativer Weltwährungspolitik“. Zuhörer sind von dem Auftritt in seiner Heimat, zu seinem Thema begeistert. Köhler verwendet wiederum die Formel „die Politiker“.

Einer, der ihn kennt, sagt: „Horst Köhler hadert mit sich. Könnte Köhler die Uhr zurückstellen, täte er es.“ Köhler, der pietistisch angehauchte Pflichtmensch, bedaure es, sich nicht am Riemen gerissen, nicht gesagt zu haben: „Jetzt erst recht.“

Ein anderer Vertrauter meint: „Er empfand das Amt zum Schluss als Last, ihm geht es heute gut. Er ist froh und dankbar über Zeit für Frau und Familie.“ Köhler ärgere sich über die Art seines Rücktritts – aber nicht so, dass es seine Gegenwart zerstöre. Horst Köhler selbst sagt, er bereue seinen Rücktritt nicht.

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