WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Fernsehen
  3. Late Night "Hart aber fair": Wenn ein Jugendrichter das S-Bahn-Fahren fürchtet

Fernsehen Late Night "Hart aber fair"

Wenn ein Jugendrichter das S-Bahn-Fahren fürchtet

Ein Jugendrichter mit S-Bahn-Phobie, eine stille Heldin der Zivilgesellschaft und ein philosophischer Streetworker sorgten bei Plasberg für eine ganz andere Jugendgewalt-Debatte.

Die schockierenden Bilder einer Überwachungskamera, erst vor Tagen in einem U-Bahnhof der Hauptstadt aufgezeichnet, lösen Beklemmung aus. Der Täter tritt solange auf den Kopf seines zufälligen Opfers ein, bis der Rest des Körpers keine Regung mehr zeigt. Szenen wie aus einem Film. Tänzelnd wendet sich der Täter von seinem reglosen Opfer ab, setzt mit beschwingter Lässigkeit seinen Weg fort.

Schauspieler Heinz Hoenig, Gründer eines Projekts, das sich mit gefährdeten Jugendlichen auseinandersetzt, umreißt gleich zu Beginn ziemlich genau, worum es unter dem reißerischen Titel "Halt's Maul, du Opfer - wer stoppt die jungen und gnadenlosen Gewalttäter?" bei Frank Plasberg geht, nämlich die zunehmende Grenzenlosigkeit der jugendlichen Gewalt, die keine Hemmschwelle, ja nicht mal mehr einen Anlass für ihren Ausbruch zu brauchen scheint.

"Wenn früher einer am Boden lag, dann war der Krieg zu Ende." Es ist auch ein Unverständnis zwischen Generationen, das sich hier spiegelt.

Andreas Müller, Jugendrichter im brandenburgischen Bernau, fährt nach eigenem Bekunden nachts gar nicht mehr mit der S-Bahn. Seine Generation sei noch aufgewachsen mit "Love & Peace", sagte er. Die Kinder von heute würden in eine viel brutalere, eine kältere Welt geworfen. Hunderttausende würden in Familien hineingeboren, die keinerlei gesellschaftliche Perspektive mehr hätten. Das Aufwachsen mit Hartz IV, „das rächt sich heute auf der Straße."

Salome Saremi-Strogusch hat ihren 19-jährigen Bruder in dieser brutaleren Welt verloren. Weil er sich einmischte, weil er bei einer Schlägerei schlichten wollte. Als er schließlich selber zum Mord-Opfer wurde, war er auf belebter Straße allein, niemand half ihm, dem Helfer.

Die junge Frau setzt sich trotz dieser traumatischen Erfahrung für Zivilcourage ein: "Mein Bruder starb, weil er anderen half. Für uns war es sehr klar, dieses Erbe weiter zu tragen, anderen zu helfen." Ein denkwürdiges Statement in einer Gesellschaft, die sich immer öfter wegduckt, wenn es um Hilfe für Schwache geht.

Thomas Sonnenburg ist Streetworker und der erste in der Runde, der auf die fragwürdige mediale Perpetuierung eines Gewaltverbrechens als emotionales Entrèe für Fernsehsendungen kritisch eingeht.

"Beziehung steht vor Erziehung"

Die ständige Wiederholung, das Vorführen der Bilder sei "abscheulich." Sonnenburg, der sich berufsmäßig auf den Straßen und in den U-Bahnhöfen der Hauptstadt mit problematischen Jugendlichen von Angesicht zu Angesicht auseinandersetzt, sagt einen interessanten Satz: "Beziehung steht vor Erziehung."

Das klingt erst einmal nach verschlafener 70er-Jahre-Reformpädagogik, berührt aber doch den Kern des Problems: Wenn uns neben der Strafe zu diesen Tätern nichts mehr einfällt, wenn sich niemand mehr zu diesen verrohten Jugendlichen in irgendeiner Form in "Beziehung" setzen will, also überhaupt eine Grundlage schafft, um sie "erziehen" zu können, ist das dann nicht eine gefährliche gesellschaftliche Zeitbombe?

Anzeige

Das ist Jugendrichter Müller mit der nächtlichen S-Bahn-Phobie dann doch etwas zu vage: "Ich habe 600 Verfahren im Jahr, ich habe keine Zeit mit den Jungs in den Park zu gehen und ihnen zu erzählen du darfst nicht mehr schlagen."

Seiner Meinung nach könnte der seit 20 Jahren umstrittene und bisher nicht eingeführte "Warnschuss-Arrest" die Wende bringen. Der sogenannte "Schnupper-Knast" von ein bis zwei Monaten könne auch bei Bewährungsstrafen wahre Wunder der Abschreckung bewirken.

Dieter Wiefelspütz, innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, der nach eigenem Bekunden gern "intensiv diskutiert" und "in überschaubaren Zeiträumen zu Ergebnissen kommt", ist sich da nicht so sicher: "Auch in der Strafe muss Menschlichkeit stecken" sinniert er.

Wiefelspütz sitzt seit 1987 im Bundestag. "Einfach nur zurückschlagen, das geht auch nicht", sagt er. Es sind zeitlose Stanzmasken einer politischen Rhetorik, die nichts mehr will, als dass alles so bleibt wie es ist.

Opfer-Anwalt Roland Weber hat durchgesetzt, dass jetzt per Gesetz auch Nebenkläger in einem Prozess anwaltlich vertreten werden können. Er machte klar, wie sehr der Umgang mit Tätern und Opfern auch vom Ökonomischen abhängig ist: "Es geht um den Rechtsstaat und den gibt es nicht umsonst. Gehen die Gewalttaten wie jetzt um zehn Prozent zurück, dann werden die Jugendrichterstellen sofort zusammengestrichen."

Das Einführen eines "Warnschuss-Arrestes" für Ersttäter scheint da doch eine kostengünstige Angelegenheit zu sein. "Was passiert in diesem Arrest? Das ist doch hier die Frage", entfährt es Heinz Hoenig.

Was mit denen, denen Werte, Mitgefühl und Sympathie egal sind?

Und fürwahr, der blinde Fleck dieser Runde ist die Ratlosigkeit darüber, wie wir mit den Jugendlichen unserer Gesellschaft umgehen, denen unser Wertesystem, unser Mitgefühl, unsere Schamgrenzen egal sind. "Wir haben dann Richter, die nicht mehr S-Bahn fahren", sagt Thomas Sonnenburg.

Anzeige

Als Frank Plasberg die hochschwangere Salome Saremi-Strogusch fragt, was sie ihrem Kind über ihren erschlagenen Onkel erzählen wird, da macht sich ein rührender Stolz in ihrer Stimme bemerkbar.

Dieses Kind wird etwas über einen Menschen lernen, der liebte, der Mitleid empfand und half, als andere wegschauten. Und es wird eine Mutter haben, die trotz des Verlusts weiter für die Richtigkeit dieses Lebens eintritt. "Ich habe keine Angst", sagt sie. Man glaubt es ihr.

Bei der obligatorischen Abschlussrunde, bei der es darum geht, wer wen mitnehmen würde, wird es dann fast ein bisschen rührend. Die Gäste beschließen, Richter Müller auf seiner ersten S-Bahnnachtfahrt als Verstärkung zu begleiten. Da ist sie die Zivilgesellschaft, ganz klar.

Es wird viel über Gewalttäter berichtet, aber wird aus den Opfern? Sind Sie Opfer von Gewalt im öffentlichen Raum geworden? Im Bus, der U-Bahn, in Unterführungen, auf Plätzen? Haben Sie die Erfahrung gemacht, dass Sie Menschen verteidigt oder doch lieber weggesehen haben? Wie geht es Ihnen heute nach der Tat? Wie haben Sie die Folgen bewältigt? Melden Sie sich bitte unter gewaltopfer@welt.de und schildern Sie uns Ihre Geschichte. Bitte hinterlassen Sie eine E-Mail-Adresse und/oder Telefonnummer, so dass wir Sie kontaktieren können, falls Ihre Geschichte veröffentlicht werden sollte. Herzlichen Dank, Ihre Welt-Online-Redaktion.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema