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Meinung Karlspreis für EZB-Chef

Trichet glaubt an Europa wie kein Zweiter

Volle Fahrt: Jean-Claude Trichet scheint keine Pause zu kennen, doch am 31. Oktober ist zumindest an der Spitze der EZB Schluss Volle Fahrt: Jean-Claude Trichet scheint keine Pause zu kennen, doch am 31. Oktober ist zumindest an der Spitze der EZB Schluss
Volle Fahrt: Jean-Claude Trichet scheint keine Pause zu kennen, doch am 31. Oktober ist zumindest an der Spitze der EZB Schluss
Quelle: Privat
EZB-Präsident Jean-Claude Trichet bekommt den Karlspreis für seine Verdienste um Europa. Die Laudatio auf den "Mister Euro".

Die Persönlichkeit Jean-Claude Trichets ist sehr vielseitig: Da ist einerseits der etwas routinierte, stets gefasste, ja sogar etwas langweilige Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Es gibt aber auch einen ganz anderen Jean-Claude Trichet, den man nur kennenlernt, wenn die Mikrofone und die Kameras aus sind. Es ist ein fast kindhaft neugieriger Mensch, dessen Kopf ständig arbeitet, der äußerst fokussiert ist. Jean-Claude Trichet kann sehr emotional, ja sogar wütend werden.

Zum Beispiel in einem Fischrestaurant auf unserer gemeinsamen viertägigen Reise ins südkoreanische Busan im vergangenen Sommer. Zugegeben, ich hatte den Präsidenten etwas provoziert, hatte ihm gesagt, dass es ja nun nicht wirklich schwierig sei, die Preise niedrig zu halten, solange asiatische Volkswirtschaften den Westen mit günstigen Konsumgütern versorgen; und dass er dann im Mai 2010, als die EZB auf einmal bereit war, Staatsanleihen kriselnder Länder wie Griechenland oder Irland zu kaufen, doch leichtfertig diese Stabilität aufgegeben habe.

Da hat er den Fisch zur Seite geschoben und eine Weile nicht mehr angerührt. In solchen Momenten wird er richtig fuchtig: „Do you have a hidden agenda, Sir?“ – „Haben Sie eine versteckte Agenda“, rief er und seine grauen, vollen Haare fielen ihm ins Gesicht. „Wollen Sie mir sagen, wir seien nicht die Hüter einer stabilen Währung? Wir waren in den vergangenen elfeinhalb Jahren seit unserer Gründung besser als jede andere Zentralbank innerhalb der Eurozone seit Ende des Zweiten Weltkriegs“, sage er und bohrte wiederholt seinen Finger in den Tisch.

Und dann sagte er einen dieser Sätze, die so typisch für Jean-Claude Trichet sind. Er sagt sie leise, aber umso bestimmter: „Die Zentralbank wird immer ihrer Verantwortung gerecht werden. Denn wer die Preisstabilität in Gefahr bringt, der bringt Europa in Gefahr.“ Das ist der Satz, der offenbar auch das Karlspreis-Direktorium beeindruckt hat, wie aus seiner Würdigung hervorgeht.

In diesem Satz hat Jean-Claude Trichet sein ganzes Denken, seine ganze Mission auf den Punkt gebracht. Er ist davon überzeugt, dass ein Staatswesen ohne Preisstabilität auf Dauer nicht existieren kann und deshalb alles dafür getan werden muss, den Wert der Währung zu erhalten. Wobei Trichets Verständnis des existierenden Staatswesens ein durch und durch europäisches ist.

Er sieht sich nicht nur als Notenbanker, als jemand, der Jahr für Jahr darauf achten muss, dass die Preise stabil bleiben. Nein, Jean-Claude Trichet hat ein breiteres Verständnis von seiner Aufgabe: Er hat fast sein ganzes berufliches Leben in den Dienst Europas gestellt. Er glaubt an Europa wie nur wenige andere Menschen, die heute noch eine aktive Rolle auf der politischen Bühne spielen. Trichet ist einer der Letzten seiner Art.

Wenn man mit Jean-Claude Trichet über die Entstehung des Euro spricht, dann kommt er sehr bald auf den Namen Horst Köhler. Der hat noch vor dem Fall der Mauer mit ihm über den Euro verhandelt. Köhler hat ihm damals gesagt: „Weißt du, Jean-Claude, wir können das mit dem Euro schaffen.“ Seither habe er das Gefühl, an etwas ganz Großem zu arbeiten, hat er mir in Busan gesagt. An etwas ganz Großem im historischen Kontext.

Aber es ist eben nicht nur dieses Bewusstsein, ein Staatsdiener zu sein, das Trichet auszeichnet. Er denkt durch und durch wie ein Staatsmann, ja fast wie ein Politiker im positiven Sinne. Also nicht wie jene heute sehr übliche Spezies, die sich durch politisches Taktieren auszeichnet und einzig allein an das Machbare denkt. Und – wenn es gerade mal opportun erscheint – wichtige Entscheidungen schon nach einem halben Jahr wieder einkassiert.

Unpopuläre Entscheidungen durchhalten

Nein, es ist eher dieses Bewusstsein eines Helmut Schmidt, Valéry Giscard d’Estaing oder eines Helmut Kohl. Dieses Denken zeichnet sich dadurch aus, bei großen Entscheidungen das Ziel in den Vordergrund zu stellen. Und dadurch, dass man bereit ist, auch sehr unpopuläre Entscheidungen durchzuhalten, wenn es sein muss.

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Das klingt einfach, ist es aber in heutigen Zeiten weniger denn je. Das machte die Sache gerade in den Tagen rund um den 9. Mai 2010 so brisant. Jean-Claude Trichet stand auf einmal am Abend des 7. Mais Staatspräsidenten und Regierungschefinnen und -chefs gegenüber, die dieses Verantwortungsbewusstsein in dieser Form nicht teilen.

Dadurch wurde Trichet in eine äußerst delikate, ja gar unangemessene Rolle gedrängt. Denn an diesem Freitagabend des 7. Mai 2010 im Justus-Lipsius-Gebäude in Brüssel wurde Jean-Claude Trichet vom Mr. Euro zum Mr. Europa. Er war es, der den Regierungschefs angesichts der dramatischen Situation in Griechenland und an den Finanzmärkten ins Gewissen redete, dass sie nun sehr entschieden handeln müssten. Er war es, der vor 16 Staats- und Regierungschefs die Charts ausgebreitete, um die Dramatik der Situation klar zu machen. So wie ein Lehrer seine lernfaulen Schüler vor einer schweren Arbeit ermahnt.

Und um die Brisanz wirklich zu verdeutlichen, hat er angedeutet, dass die Zentralbank ebenfalls in die Bresche springen und Staatsanleihen kaufen könnte. Das war genau der Moment, in dem aus Mr. Euro Mr. Europa wurde. Das aber darf nicht sein. Es ist die Aufgabe eines EZB-Präsidenten, stabiles Geld zu gewährleisten, und dafür ist die Unabhängigkeit einer Zentralbank unabdingbare Voraussetzung.

Es ist hingegen nicht seine Aufgabe, durch dramatische Appelle einen Konsens unter Politikern herzustellen und durch radikales Handeln eine Art Vorbild abzugeben. Damit verschwimmt die so wichtige Trennung zwischen Politik einerseits und Geldpolitik andererseits. Mr. Euro muss Mr. Euro bleiben und sollte auf keinen Fall zum Mr. Europa werden.

Das wird auch dadurch nicht besser, dass Jean-Claude Trichet möglicherweise keine andere Wahl hatte, als so zu handeln – wenn er eine Katastrophe verhindern wollte. Es war sicherlich eine Situation, die an Dramatik kaum zu überbieten war und aus der es keinen guten Ausweg mehr gab. Wohl nie zuvor sind in Europa so sehr die verschiedenen Geschwindigkeiten der Integration deutlich geworden. Einerseits steht da eine Éuropäische Zentralbank, verantwortlich für eine Währung von rund 330 Millionen Menschen.

Der gegenüber stehen inzwischen 17 Regierungen, die ihre eigenen, sehr spezifischen Interessen verfolgen und denen das eigene politische Interesse über das europäische Interesse geht. Die Folgen dieser Asymmetrie können nicht nur theoretisch verheerend sein, sondern sie sind es inzwischen auch. Das sehen wir nun daran, wie mit den griechischen Staatsschulden umgegangen wird.

Unabhängigkeit der EZB steht auf dem Spiel

Das ist ja nichts anderes als die Fortsetzungsgeschichte vom Mai 2010. In diesen Tagen steht die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank auf dem Spiel. Und damit um den künftigen Wert ihrer Lebensversicherungen, meine Damen und Herren. Die Europäische Zentralbank einerseits und die EU-Kommission und ausgerechnet die deutsche Bundesregierung andererseits befinden sich auf Kollisionskurs.

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Worum geht es genau? Es geht darum, dass viele europäischen Regierungen nun eine Umschuldung für Griechenland befürworten, eine sogenannte Umschuldung light oder ein Reprofiling, wie es in der Fachsprache heißt.

Das funktioniert in etwa so: Man verlängert einfach die Laufzeiten der Schulden und senkt den Zinssatz. Ein theoretisches Beispiel: Ein Bond, der noch ein Jahr läuft und dem Käufer sieben Prozent Zinsen bringt, geht stattdessen über 10, 15 oder gar 20 Jahre und bringt nur noch vier Prozent jährlich. Die Staatsschuld bleibt zwar zunächst in absoluten Zahlen gleich hoch und wird perspektivisch eben etwas langsamer ansteigen. Aber der Vorteil für die Griechen wäre, dass sie nicht mehr so oft zum Kapitalmarkt gehen müssen.

Sehr viel Nervosität wäre dann aus dem Markt genommen, dieses ständige Zittern, ob es denn auch mit der nächsten Auktion von Staatsanleihen klappt. Das klingt wie ein technisches Detail, keine wirklich große Sache angesichts der vielen Sündenfälle in den vergangenen zwölf Monaten.

Die EZB ist nun aber kategorisch gegen eine solche Lösung, und das aus gutem Grund: Es geht nämlich um die Frage, wer die Zeche dieser Umschuldung zahlt. Sind es die europäischen Regierungen oder sind es die Zentralbanken? Denn wenn es zu einer Umschuldung kommt, dann ist das de facto eine Bankrotterklärung Griechenlands – auch wenn sie freiwillig ist. Und das heißt laut EZB-Statuten: Sie darf diese Anleihen als Sicherheit nicht mehr akzeptieren, wenn sie nicht weiter an Glaubwürdigkeit verlieren will.

Umschuldung wäre Kapitulation der EZB

Tut sie es dennoch, finanziert sie, so hart muss man das sagen, direkt einen bankrotten Staat samt einem bankrotten Bankensystem. Um es ganz banal auszudrücken: Die griechischen Fiskalprobleme würden mittelfristig über die Notenpresse finanziert und nicht über Kredite der anderen europäischen Regierungen und des IWF – es sei denn, die Regierungen sind bereit, für die komplette griechische Schuld zu haften. Das ist aber politisch nicht durchsetzbar.

Somit sind die Fronten klar. Und die EZB tut gut daran, ein unmissverständliches Signal zu senden: Bis hierher und nicht weiter! Das hat sie getan, was ihrer Glaubwürdigkeit gut tut. Das heißt aber auch: Von dieser Position dürfen die EZB und Jean-Claude Trichet künftig nicht mehr abweichen.

Wenn die Zentralbank hingegen in den nächsten Wochen oder Monaten doch noch einer solchen Umschuldung zustimmt und die EU-Staaten nicht bereit sind, gleichzeitig die griechische Staatsschuld komplett zu garantieren, dann wäre das die Kapitulation der EZB. Sie würde zur Schuldenagentur der nationalen Finanzministerien verkommen. All das zeigt, wie wichtig es ist, dass an der Spitze der Europäischen Zentralbank eine unangefochtene, starke Persönlichkeit steht. Eine Persönlichkeit, wie es sie nur wenige in Europa gibt. Jean-Claude Trichet ist eine solche Persönlichkeit.

Und nur aus diesem Bewusstsein heraus hat es Trichet überhaupt gewagt, sich in die Rolle des Mr. Europa hinein zu begeben. Nämlich im Bewusstsein, in dieser Notsituation im Mai 2010 viel riskieren, zu einem späteren Zeitpunkt aber den Regierungschefs die Grenzen aufzeigen zu können.

Ich wage deshalb die These, dass der Zentralbankrat unter der Führung Jean-Claude Trichets einer solchen Kapitulation der unabhängigen Notenbank vor den Regierungen nicht zustimmen wird. Neben diesem Bewusstsein, nicht nur ein glaubwürdiger Geldpolitiker, sondern auch ein standfester Europäer zu sein, gibt es noch eine zweite, herausragende Eigenschaft Jean-Claude Trichets. Es ist sein Streben nach Konsens.

Es ist undenkbar, dass der Präsident sich jemals öffentlich gegen den EZB-Rat stellen würde, wie es Bundesbank-Präsident Axel Weber nach seinem Veto im EZB-Rat gegen den Kauf von Staatsanleihen getan hat. Fest steht, dass sich zwischen Weber und Trichet in den Tagen rund um den 9. Mai des vergangenen Jahres ein Graben aufgetan hat: auf der einen Seite Weber, isoliert im Zentralbankrat, der vehement gegen den Ankauf von Staatsanleihen argumentierte; auf der anderen Seite Trichet, der stets um Einstimmigkeit bemüht war und die Entscheidung vom 9. Mai als alternativlos ansah.

Der Bruch zwischen den beiden Notenbankern ging allerdings nicht so sehr auf die unterschiedlichen Positionen zurück. Es war vielmehr die Tatsache, dass Weber seine Position öffentlich gemacht hat. Diesen Verstoß gegen die hergebrachten Regeln fand Trichet inakzeptabel und – auch wenn er das im persönlichen Gespräch mit mir nicht zugegeben wollte – menschlich wohl enttäuschend.

Ich würde Ihnen nun gern eine Bewertung geben, wer von den beiden Geldpolitikern Recht hatte. Aber das wäre nicht redlich: Denn wir kennen die langfristigen Folgen dieser Entscheidung nicht. Möglicherweise hat die EZB mit ihrem entschlossenen Handeln die wohl schlimmste Finanzkrise in der Nachkriegsgeschichte abgewendet. Möglicherweise hat sie aber auch durch diesen Prinzipienbruch einen langfristig noch viel größeren Schaden angerichtet, indem das Unvermeidbare letztlich doch nur aufgeschoben – und nicht etwa verhindert – wurde.

Trichets Akku scheint nie leer zu sein

Jean-Claude Trichet, meine Damen und Herren, ist dieser Zwiespalt, dieser Kampf, ihm ist die Last dieser Verantwortung anzumerken. Zumal er auch mit Gegenwind aus dem eigenen Lager immer wieder mal zu kämpfen hat. Es gibt nicht nur positive, sondern auch manche kritischen Töne über ihn.

Trichet sei gerade in der Krise zum einsamen Kämpfer geworden, er würde im EZB-Rat nur noch Vorträge vor seinem Rat halten, keine Diskussionen mehr führen. Wenn dann Ratsmitglieder weiteren Diskussionsbedarf sehen, sagt er, man habe das doch alles schon besprochen. „Napoleonische Züge“ habe er gezeigt, sei manchmal beratungsresistent gewesen. Meine Kollegin Anja Ettel und ich haben Jean-Claude Trichet damit konfrontiert. Er sagte daraufhin süffisant: „Napoleons Aufgabe war es nicht, ein europäisches Team von 22 Zentralbankern zu leiten.“

Es ist in der Tat eine Aufgabe, die jeden Menschen an die Grenzen brächte. Eine Aufgabe, die eine Prinzipientreue, ein Pflichtbewusstsein und eine Unerbittlichkeit gegen sich selbst erfordert, die nur wenige Menschen zu leisten bereit und im Stande sind.

Das EZB-Direktoriumsmitglied Jürgen Stark sagte uns dazu: „Keiner von uns ist vor seinen Anrufen auch nach Mitternacht sicher. Der Präsident schafft es, ständig alle Mitglieder des Rats auf das gleiche Informationsniveau zu bringen.“ Das sei bewundernswert. Und es zeigt eben Trichets Streben nach Konsens.

Der Präsident versteht es dabei, Menschen das Gefühl zu geben, dass er ihr Problem als besonders wichtig ansieht: „Sie können alle fragen“, sagte uns Francesco Papadia, der bei der EZB die Geldmarktgeschäfte verantwortet. „Jeder wird sagen, dass der Präsident sich für seinen Geschäftsbereich ganz besonders interessiert.“

Es ist das, was ich auch in den Tagen mit Jean-Claude Trichet in Busan erlebt habe. Er ist nie abgelenkt, immer sehr konzentriert und fokussiert. Trichets Akku scheint nie leer zu sein. Wir hatten 96 Stunden in Busan hinter uns, mit sehr wenig Schlaf, ich hatte gerade noch einmal zwei Stunden mit ihm auf dem Rückflug gesprochen, da wollte er eine Pause machen. Doch er wollte nicht schlafen. Nein, er griff zu einem Gedichtband. „Le Bonheur des Petits Poissons“ – Das Glück der kleinen Fische von Simon Leys.

Darin geht es um die Facetten der menschlichen Natur – nichts also, was viele Menschen im übermüdeten Zustand lesen würde. Vielleicht aber ist es genau die richtige Lektüre, um einen Zentralbankrat besser leiten zu können. Wo andere die Augen schließen, vertieft sich Trichet in Fachzeitschriften wie „Scientific American“ – und scheint sich dabei tatsächlich auch noch zu entspannen. Oder er nimmt seinen iPod und lernt eine Lektion Deutsch. Das hat er ziemlich gut gelernt in den vergangenen sieben Jahren – trotz des Stresses.

Doch so erstaunlich es für jemanden ist, dessen Gehirn nie stillzustehen scheint: Über sich selbst denkt Trichet offenbar nicht viel nach. Was vielleicht seine außerordentliche innere Ruhe und Gelassenheit erklärt. Das fiel mir erst auf, als ich ihm mehr und mehr persönliche Fragen stellte. Was übrigens ein EZB-Präsident, der ja ständig nach geldpolitischen Details gefragt wird, nicht gewohnt ist. Es hat allerdings bis zum Rückflug gedauert, bis er mir mehr über sich verriet.

Einer der glücklichsten Momente in seinem Leben sei es gewesen, als er im Literatenkreis seines Vaters sein eigenes Gedicht vorlesen durfte. Und er wunderte sich darüber, dass er das Werk immer noch aus dem Kopf rezitieren konnte: „Lentement les heures sonnent, et moi qui me laissai aller, aux rêves qui endorment“ – „Langsam klingen die Stunden, und ich, der ich mich den Träumen hingab, die da schlummern.“ Zwölf Jahre war er damals alt.

Vorbildlicher Umgang mit anderen Menschen

Bis zum 35. Lebensjahr hat Trichet, inzwischen selbst Vater zweier Söhne, immer wieder Werke verfasst, für seine Frau, für sich selbst, für die Schublade. Dass er dann aufhörte, hatte offenbar weniger mit der Arbeitslast zu tun. „Ich war nicht zufrieden. Ich fand mich zu klassisch.“ Doch Gedichte verfolgen ihn bis heute. Ich zitiere den Preisträger: „Das Faszinierende an Gedichten ist: Ein Mensch hat sie geschaffen, niemand kann sie mehr abwandeln, ohne sie völlig zu zerstören.“

Wenn Sie sich fragen, was Jean-Claude Trichet nach dem 31. Oktober machen wird, wenn er abtritt: Er wird mit Sicherheit sein Buch über das Wesen der Poesie zu Ende schreiben. Während der Vater ihm die Begeisterung für Naturwissenschaften und Literatur mitgab, prägte die Mutter Trichets Wertvorstellungen. „Justix“ wurde der junge Jean-Claude von Kommilitonen gerufen, wegen seines großen Gerechtigkeitssinns. „Meine Mutter hat mich in einer Art erzogen, dass ich mich um Menschen sorgen musste“, sagte er mir.

Irgendwann aber, als wir schon lange über ihn sprachen, guckte er mich plötzlich etwas misstrauisch an: „Was wird das hier? Eine psychoanalytische Sitzung? Das bin ich nicht gewohnt. Wenn Sie so weitermachen, stelle ich gleich die Fragen!“

Was mich an diesem Menschen Jean-Claude Trichet so fasziniert, ist seine Aufmerksamkeit, seine Bodenständigkeit, seine Integrität, seine Bescheidenheit. Auch deswegen, und nicht nur wegen seines beispiellosen Einsatzes für den Euro, möchte ich dem Karlspreis-Direktorium gratulieren, dass es Jean-Claude Trichet in diesem Jahr zum Preisträger gewählt hat. Sein Umgang mit anderen Menschen ist vorbildlich. Das merken Sie an Details: Wie er morgens die Dame am Hotelschalter behandelt, wie er mit dem Grenzbeamten spricht oder wie er die Stewardess um etwas bittet.

Dass Jean-Claude Trichet nach mehr als zweieinhalb Jahrzehnten im Dienst des Euro im Oktober abtritt und dann nur noch Lyrikbücher schreibt, ist so gut wie ausgeschlossen. Einer wie er wird in Zeiten, in denen kaum jemand mehr das globale Finanzsystem versteht, an vielen Stellen gebraucht werden.

„Wenn ich hier in die Runde schaue, dann ist er der Gigant“, sagt US-Finanzminister Tim Geithner am Rande des G-20-Gipfels in Busan. Angesichts trauriger Eskapaden, wie wir sie nun vom abgetretenen IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn erfahren haben, ist sicher, dass wir Jean-Claude Trichet in einer anderen Rolle noch erleben werden. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass er nun plötzlich IWF-Chef wird. Nach all diesen Jahren wäre diese Tortur für einen fast 70-Jährigen einfach zu groß. Mit Jean-Claude Trichet tritt in diesem Jahr also einer der großen Schöpfer dieses einzigartigen Experiments ab, das wir „Euro“ nennen.

Hat er alles richtig gemacht? Mit Sicherheit nicht. Wie auch: Wie sollte ein Mensch in seiner Situation auch alles richtig machen. Vielleicht hat er an dem Mai-Wochenende 2010 sogar einen gravierenden Fehler begangen, das werden wir wohl erst in einigen Monaten oder vermutlich sogar erst in Jahren sagen können.

Aber alles, was geschehen ist, sollte man immer mit Blick auf die Intention des Handelnden sehen. Und da steht fest: Den EZB-Präsidenten, die Jean-Claude Trichet folgen werden, wird eines fehlen: diese enge, diese gelebte Verbundenheit mit dem Euro, die nur ein Mensch empfinden kann, der diese Währung mit geschaffen hat.

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