Deutsch ist mehr als ein Schulfach

Für viele Westschweizer Schüler besteht Deutsch aus Deklinieren und Konjugieren – der Spassfaktor ist dabei gleich null. Das Rezept von «Germanofolies» dagegen lautet: Deutschlernen durch Mitsingen.

Andrea Kucera, Tour-de-Peilz
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Die Primarschüler von Tour-de-Peilz musizieren mit der Deutschschweizer Band «Ssassa». (Bild: Adrian Baer / NZZ)

Die Primarschüler von Tour-de-Peilz musizieren mit der Deutschschweizer Band «Ssassa». (Bild: Adrian Baer / NZZ)

Ziemlich sicher versteht Elissa kein Wort, als die Deutschschweizer Band «Ssassa» den Mundart-Hit «Es Buurebüebli mani nid» anstimmt. Trotzdem summt die Achtjährige an diesem Mittwochmorgen selig mit und klatscht in die Hände. Wir befinden uns in der Aula der Primarschule von Tour-de-Peilz im Kanton Waadt. Rund 80 Fünft- und Sechstklässler kommen heute in den Genuss einer aussergewöhnlichen Deutschstunde: Statt Verben zu büffeln, dürfen sie singen, johlen und kreischen – sofern sie dies auf Deutsch tun.

Deutsch ist unbeliebt

Nun ja, ganz so genau nehmen es weder die Band noch die Schüler. Die Musiker von «Ssassa» singen nämlich nicht nur auf Deutsch und Schweizerdeutsch, sondern auch auf Albanisch, Spanisch und Arabisch. Auf ein Hochzeitslied aus Albanien folgt ein Flamenco, später rappt die Band auf Deutsch, um anschliessend einen marokkanischen Song zum Besten zu geben. Multikulti ist an diesem Morgen angesagt: Die Songs sollen bei den Schülern Freude an fremden Sprachen im Allgemeinen und an Deutsch im Besonderen wecken. Sie haben erst vor wenigen Wochen mit Frühdeutsch angefangen. Immerhin die Hälfte der Lieder wird in der Sprache Goethes gesungen. Schliesslich ist der Organisator des Konzerts ein Verein namens «Germanofolies» – also ein Verein von «Deutschverrückten.

Gegründet wurde «Germanofolies» 2006 von zwei Waadtländer Deutschlehrern, die sich darüber aufregten, dass ihrem Fach das Image eines der schwierigsten Schulfächer überhaupt anhing. «Wenn jemand vom Gymnasium flog, dann meist aufgrund seiner schlechten Deutschnoten», erinnert sich François Maffli, der heute an der Oberstufe in Montreux Deutsch unterrichtet und ausserdem als Sprachaustausch-Koordinator des Kantons Waadt fungiert. Kein Wunder, war das Fach bei den Waadtländer Schülern nicht sonderlich beliebt.

Die Sprache lebt

Maffli aber wollte seinen Schülern Deutsch als eine lebendige, fröhliche Sprache vermitteln. Und so begann er gemeinsam mit einem gleichgesinnten Deutschlehrer, für die Oberstufe und später auch für die Primarschule Konzerte und Theater mit deutschsprachigen Künstlern zu organisieren. Das erste von «Germanofolies» organisierte Konzert fand 2006 im Auditorium Stravinski in Montreux statt, in dem sonst die ganz grossen Namen des Jazzfestivals von Montreux auftreten. Sowohl für die unbekannte, aus Ahrensburg bei Hamburg stammende Band «TempEau» wie für die Waadtländer Teenager war dies ein unvergessliches Erlebnis. Diese Eventkultur, gepaart mit einer Portion Didaktik, pflegt der ehrenamtliche Verein bis heute. Pro Jahr organisiert «Germanofolies» jeweils eine Tournee. Jedes Theaterstück und jedes Konzert wird dabei von einem Lehrmittel mit Übungen begleitet, das an der kantonalen pädagogischen Hochschule entwickelt wurde und mit welchem die Lehrer ihre Schüler auf den Event vorbereiten können. Indem der Verein den Deutschunterricht vom Klassenzimmer in einen Konzertsaal verlegt, möchte er den Schülern zeigen, dass die Sprache, die sie in der Schule lernen, einem Kulturraum entspricht.

Eigentlich leuchtet diese Erkenntnis jedem ein, doch werde beim Unterricht der lebendigen Sprachen viel zu viel Zeit in Grammatik und Auswendiglernen investiert – als handle es sich um ausgestorbene Idiome wie Latein und nicht um Sprachen, die draussen auf der Strasse gesprochen würden. So sieht dies zumindest Rosanna Margonis-Pasinetti, die bei der Pädagogischen Hochschule des Kantons Waadt für die Didaktik verantwortlich ist. Sie ist überzeugt, dass das Konzept von «Germanofolies» bei der Vermittlung aller lebendigen Sprachen Schule machen sollte. Und räumt gleichzeitig ein, dass Deutsch im Gegensatz etwa zu Englisch in der Romandie besonders auf Schützenhilfe angewiesen sei. «Kein Kind hier hört von sich aus deutschen Pop oder Mundartlieder.»

Ein positives Image

Ob sich dies ab heute ändern wird? Wer weiss. Begeistert wippt Elissa mit, als die Band ihre jungen Zuhörer bittet, sich «mau ufe, mau abe, mau linggs, mau rächts» zu bewegen. Noch harzt es etwas bei der Feinmotorik oder besser gesagt beim Sprachverständnis. Dies kümmert jedoch niemanden. Hauptsache, Elissa hat ein positives Bild von Schweizerdeutsch erhalten – zum Wörterbüffeln wird sie bis zum Ende ihrer Schulzeit noch genügend oft Gelegenheit haben.

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