Atombombentest im Jahr 1951, George Frederic Watts Gemälde «Orpheus and Eurydice», Christian Constantin, Präsident des FC Sion, und das Oval Office des US-Präsidenten. (Bilder, von links oben im Uhrzeigersinn: PD; Michael Reynolds / Reuters; PD; Laurent Gillieron / Keystone)

Atombombentest im Jahr 1951, George Frederic Watts Gemälde «Orpheus and Eurydice», Christian Constantin, Präsident des FC Sion, und das Oval Office des US-Präsidenten. (Bilder, von links oben im Uhrzeigersinn: PD; Michael Reynolds / Reuters; PD; Laurent Gillieron / Keystone)

Was ist Vertrauen überhaupt? Eine Annäherung in 32 Fakten und Anekdoten

Unsere Gesellschaft basiert auf Vertrauen – in Freunde und Fremde, in Fakten und den Rechtsstaat, in uns selber und darauf, dass es schon gut kommt. Wem vertrauen wir? Und wie sieht Vertrauen eigentlich aus?

David Bauer / Michael Schilliger
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Eigentlich ist Vertrauen ja kein Gefühl. Es ist eher eine Art Wette. Auf das, was kommt, das, was jemand als Nächstes tun wird. Dass es gut kommt. Dass er das tun wird, was wir von ihm erwarten. Weil er schon früher so gehandelt hat. Weil es schon früher gut kam.

Und dann, wenn es nicht so kommt, wie es hätte kommen sollen, wenn man die Wette verliert und man sich betrogen fühlt, dann ist plötzlich sehr klar, dass es eben doch ein Gefühl ist. Ein verdammt schlechtes Gefühl.

Gefühl, Überzeugung, Wette – was Vertrauen genau ist, darauf hat fast jede Wissenschaft eine andere Antwort. Denn fast jede Wissenschaft erforscht die Rolle, die Vertrauen in ihrem Feld spielt – und kämpft damit, Vertrauen genau zu messen. Aber fast alle Wissenschafter sind sich einig: Vertrauen ist eine der zentralsten Variablen in allen Forschungsfragen.

In den kommenden Wochen werden wir mit journalistischen Mitteln versuchen, Vertrauen zu verstehen: mit Geschichten, die erklären, wie Vertrauen entsteht, was geschieht, wenn es zerbricht, und wie man es wiederherstellen kann.

Auf die grosse Frage aber, was Vertrauen überhaupt ist, haben wir auch nach langen Recherchen keine einfache Antwort gefunden. Deshalb präsentieren wir Ihnen jetzt hier 32. Und hoffen, dass Sie uns danach auch für die weiteren Geschichten Ihr Vertrauen schenken. Falls dem so ist: Hier können Sie die Serie abonnieren.

Was ist Vertrauen? 32 Episoden

1. Am 26. September 1983 schlägt ein Computer der sowjetischen Flugabwehr Alarm: Die USA hätten fünf Nuklearraketen auf die Sowjetunion abgefeuert. Der diensthabende Offizier, Stanislaw Petrow, vertraut seinem Gefühl, dass es sich um einen Fehlalarm handeln muss. Der Gegenschlag bleibt aus. Die Welt entkommt einem Nuklearkrieg.

2. Orpheus hätte seine geliebte Frau Eurydike zurück ins Leben geholt, wenn er nur darauf vertraut hätte, dass sie ihm tatsächlich aus der Unterwelt folgt. Orpheus zweifelte, drehte sich um und verlor seine Frau für immer.

3. «Do You Trust Your Wife?» hiess eine amerikanische Quizshow in den 1950er Jahren. Der Moderator nannte jeweils dem Mann das Thema der nächsten Frage, und dieser musste entscheiden, ob er sie selber beantwortet oder ob er seiner Frau vertraut, dass sie die Frage beantworten kann.

4. Vertrauen ist, grammatikalisch gesehen, ein schwaches Verb.

5. Das Wort «Vertrauen» kommt in 719 Leitentscheiden des Schweizer Bundesgerichts seit 1954 vor. Etwa so: «Der Bürger darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass amtlich publizierte verkehrspolizeiliche Anordnungen ohne Verzug entsprechend signalisiert werden.» Das Wort «Misstrauen» kommt 93-mal vor.

6. 60 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer vertrauen dem Bundesrat. Damit geniesst die Regierung ein deutlich höheres Vertrauen als Regierungen im OECD-Durchschnitt. Dieser liegt bei 42 Prozent.

7. Gewählte Politiker brauchen das Vertrauen ihrer Wählerinnen. Vertrauen ist in der Politik aber auch ein Machtmittel. Ein Regierungschef, der die Vertrauensfrage stellt, versucht das Parlament zu disziplinieren und setzt dafür alles aufs Spiel. Ein Regierungschef, gegen den ein Misstrauensvotum ausgesprochen wird, muss gehen. Das Schweizer System sieht diese Instrumente allerdings nicht vor.

Herbstserie «Vertrauen»

Mit diesem Beitrag startet die Herbstserie der NZZ. In drei Staffeln beleuchten wir das Thema Vertrauen aus unterschiedlichsten Perspektiven.

■ Wie Vertrauen entsteht (5. Oktober)
■ Wie Vertrauen zerbricht (12. Oktober)
■ Wie Vertrauen zurückkommt (19. Oktober)

Verpassen Sie keine Folge der Serie – wir benachrichtigen Sie per E-Mail, sobald eine neue Staffel online ist.

8. Nach den Terroranschlägen von 9/11 ist das «job approval» von Präsident George W. Bush, also das Vertrauen der Amerikaner in ihren Präsidenten, innert einer Woche von 53 auf 81 Prozent gestiegen.

Ein Vertrauensbruch, der als Tyrannenmord gerechtfertigt wurde: der Mord an Cäsar im Gemälde von Vincenzo Camuccini von 1798. (Bild: PD)

Ein Vertrauensbruch, der als Tyrannenmord gerechtfertigt wurde: der Mord an Cäsar im Gemälde von Vincenzo Camuccini von 1798. (Bild: PD)

9. Brutus, der heute als Inbegriff des hinterhältigen Verräters gilt, war ein enger Vertrauter Cäsars. Trotzdem half er bei dessen Ermordung, weil er die Römische Republik mehr liebte als Cäsar – und anderen Senatoren vertraute, die ihn davon überzeugt hatten, dass Cäsars Machthunger die Republik bedrohe.

10. Die App Mama Bear lässt Eltern ihre Kinder digital überwachen. Wo sind sie gerade? Wem schreiben sie SMS? Sind sie mit dem Auto zu schnell unterwegs? Vor dem Herunterladen lohnt es sich, die Folge «Arkangel» von «Black Mirror» zu schauen.

11. «Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!» – Die Redewendung wird Lenin zugeschrieben. Eine Kontrolle ergibt allerdings: Einen schriftlichen Beleg dafür gibt es nicht.

12. China arbeitet an einem sogenannten Social Credit System, das die Vertrauenswürdigkeit aller 1,4 Milliarden Chinesen bewerten soll. Wer gut abschneidet, erhält leichter einen Kredit, hat bessere Karten bei der Stellensuche und kommt einfacher an gute Ausbildungsplätze für seine Kinder.

13. Können wir unseren Mitmenschen vertrauen? Diese Frage wurde Teilnehmern einer weltweiten Studie gestellt, seit 1981 sechsmal. Insgesamt hat das Vertrauen in Mitmenschen seitdem abgenommen. Sagten damals 36 Prozent aller Teilnehmer der Studie «Ja, wir können unseren Mitmenschen vertrauen», waren es bei der jüngsten Befragung nur noch 24 Prozent.

Frage: «Can we trust most people»? – Ja-Antworten in Prozent

14. Nirgendwo vertrauen sich Menschen derzeit mehr als in den Niederlanden. Bei der letzten Befragung gaben 66 Prozent an, dass sie ihren Mitmenschen vertrauen. Ganz anders sieht es auf den Philippinen und im Karibikstaat Trinidad und Tobago aus: Dort vertrauen lediglich 3 Prozent der Befragten ihren Mitmenschen. Mehr zu diesem Thema erfahren Sie in der 1. Staffel der Serie am 5. Oktober (E-Mail-Benachrichtigung aktivieren).

15. Oxytocin ist ein Hormon, welches das menschliche Gehirn produziert und das unter anderem bei der Geburt die Wehen auslöst. Experimente mit Oxytocin an der Universität Zürich haben gezeigt, dass Probanden ihren Spielpartnern mehr vertrauen, wenn ihr Oxytocin-Spiegel zuvor mit einem Nasenspray künstlich angehoben wurde.

16. Das finnische Verb für vertrauen – «luottaa» – verlangt beim folgenden Substantiv einen spezifischen grammatischen Fall: den Illativ, der eine Hinein-Bewegung ausdrückt. Man vertraut also in etwas, ungefähr so, wie man in ein Gebäude hineinschreitet. Beim Verb «rakastaa» (lieben) sind die Finnen vorsichtiger: Auf lieben folgt immer der Partitiv, der anzeigt, dass man nur einen Teil des Ganzen meint. Finnen vertrauen also vollständig, lieben aber nur teilweise.

17. «Es ist gleich falsch, allen oder keinem zu trauen.»
– Lucius Annaeus Seneca

18. «In God we trust» steht auf jeder Dollarnote. Der Spruch wurde in den USA vor etwas mehr als sechzig Jahren zum nationalen Motto erklärt und auf die Banknoten gedruckt. Tatsächlich: Weltweit vertrauen Touristen, Firmen und auch dubiose Gestalten wie Drogenhändler oder Waffenschieber auf die grünen Scheine aus Papier. Der Wert des US-Dollars ist aber nicht gottgegeben. Vielmehr stehen dahinter das Vertrauen in funktionierende Institutionen wie die Zentralbank Fed und die Tatsache, dass die USA noch immer die globale Supermacht darstellen.

Wie es sich anfühlt, wenn man das Vertrauen in die Währung verliert, lesen Sie am 12. Oktober im Erfahrungsbericht unserer Korrespondentin Nicole Anliker aus Venezuela. Wir benachrichtigen Sie per E-Mail, sobald der Bericht online ist.

19. Wer nach der Greater Fool Theory handelt, kauft ein Wertpapier oder ein Produkt zu einem überrissenen Preis. Nicht weil er den Preis für angemessen hält. Sondern weil er darauf vertraut, dass er jemanden – einen grösseren Dummkopf – finden wird, dem er es später zu einem noch höheren Preis verkaufen kann.

20. Mit selbstsicherem Auftreten, einem passenden Erscheinungsbild und einer guten Portion Skrupellosigkeit lässt sich das Vertrauen von Menschen gewinnen. Frank Abagnale Jr. machte in den 1960er und 1970er Jahren mit Checkbetrug, Dokumentenfälschung und falschen Identitäten Millionen. Unter anderem gab er sich als Arzt, Anwalt oder Pilot aus.

Ein Mann, dem alle vertrauten: Frank Abagnale Jr. (Bild: Lucy Nicholson / Keystone / AP Photo)

Ein Mann, dem alle vertrauten: Frank Abagnale Jr. (Bild: Lucy Nicholson / Keystone / AP Photo)

21. Wenn Sie auf der Strasse einen Fremden fragen, ob er Ihnen kurz sein Handy ausleihe, stehen die Chancen schlecht. Nur 9 Prozent vertrauen einem Fremden ihr Handy an. Wenn Sie die Bitte hingegen mit einer Entschuldigung einleiten, werden Sie in 3 von 4 Fällen das Handy erhalten. Dabei spielt es keine Rolle, wofür Sie sich entschuldigen. Der Trick funktioniert auch, wenn Sie sich für etwas entschuldigen, wofür Sie nichts können, wie das Wetter.

22. In einer Umfrage auf immowelt.de gaben 13,4 Prozent der Befragten an, den Ersatzschlüssel beim Nachbarn zu hinterlegen.

23. Tagtäglich sprechen Statistiker vom Vertrauensintervall. Wie passt Vertrauen zu einer Arbeit, die auf mathematischen Beweisen basiert? Hier nennt man «Vertrauen», was in Wirklichkeit Wahrscheinlichkeit ist: Das Vertrauensintervall bezeichnet einen Bereich, der beispielsweise aus Umfragedaten berechnet wird und mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit den gesuchten Wert enthält.

Liegt es am grossen Tisch? (Bild: Leah Millis / Reuters)

Liegt es am grossen Tisch? (Bild: Leah Millis / Reuters)

24. Vertrauen Sie Leuten mit kleinen Schreibtischen. Eine Studie mehrerer US-Hochschulen kam in Experimenten zum Schluss, dass Probanden an grösseren Tischen bei einem Spiel eher betrogen und höhere Risiken eingingen. Vermutlich, weil mehr Platz mehr Macht suggeriert – und Mächtige das Gefühl haben, dass Schummelei für sie keine Konsequenzen habe.

Vielleicht tragen ja die vergleichsweise kleinen Pulte der Bundesräte zum grossen Vertrauen in die Schweizer Regierung bei (siehe 6.) (Bild: Alessandro della Valle / Keystone)

Vielleicht tragen ja die vergleichsweise kleinen Pulte der Bundesräte zum grossen Vertrauen in die Schweizer Regierung bei (siehe 6.) (Bild: Alessandro della Valle / Keystone)

25. Wer sich vor Veruntreuung, Betrug oder Verleumdung fürchtet, kann bei verschiedenen Anbietern eine Vertrauensschadenversicherung abschliessen.

26. Das Wort «Vertrauen» hat seine Wurzeln in einem Baum. Das Mittelhochdeutsche «triuwe» findet sich immer wieder in der Heldenepik und bezeichnet dort Eigenschaften wie Treue und Aufrichtigkeit. Es hat seinen Ursprung in althochdeutschen Wörtern wie «triuwa» und «gitriuwi», die sich wiederum aus der indogermanischen Wurzel «deru» entwickelten. Ihre Bedeutung verbindet man mit den Begriffen «Baum» und «Eiche», die für innere Festigkeit standen.

27. Misstrauen in wissenschaftliche Erklärungen rührt nicht unbedingt daher, dass die misstrauischen Leute zu wenig über Wissenschaft wissen oder zu wenig davon verstehen. Wissenschaftsskepsis korreliert mit religiösem Konservatismus. Das heisst: Wissenschaft hat bei Strenggläubigen einfach ganz grundsätzlich keine Chance, nicht weil sie ihr misstrauen, sondern weil sie schlichtweg nicht an sie glauben. Mehr zu diesem Thema erfahren Sie in der 2. Staffel der Serie am 12. Oktober (E-Mail-Benachrichtigung aktivieren).

28. In gut zwanzig Jahren als Präsident des FC Sion hat Christian Constantin nach gängigster Zählweise 45 Trainer eingestellt. Im Durchschnitt hat er einem Trainer damit knapp sechs Monate lang sein Vertrauen geschenkt. Vollstes Vertrauen hatte er nur in einen: Dreimal machte er interimistisch sich selber zum Trainer.

29. Feuerwehrleute geniessen weltweit das grösste Vertrauen unter allen Berufsgruppen. Nur Ärztinnen und Sanitäter erreichen ähnlich hohe Werte. Interessante Abweichung: In Kenya und Nigeria vertrauen die Menschen Landwirten am meisten.

30. Journalisten schneiden bei solchen Untersuchungen eher schlecht ab. Bemerkenswert: In europäischen Ländern ist das Vertrauen in Journalisten deutlich geringer als weltweit. Diesem Thema stellen wir uns im Rahmen dieser Serie ganz konkret – indem wir einen Leseranlass veranstalten: Ehemalige Abonnentinnen und Abonnenten treffen am Abend des 16. Oktober auf verschiedene Exponentinnen und Exponenten aus der NZZ-Redaktion.

31. «Vertrauen wird dadurch erschöpft, dass es in Anspruch genommen wird.»
– Bertolt Brecht

32. Achten Sie in der nächsten Stunde einmal darauf, wie oft Sie jemandem oder auf etwas vertrauen.

Was ist dabei einfacher:
Zu entscheiden, ob man jemandem vertraut oder nicht,
oder bei zwei Personen zu entscheiden, wem man eher vertraut?

Wem oder was vertrauen Sie? Und was braucht es, damit Sie vertrauen? Wir sind gespannt auf Ihre Gedanken dazu. Die Leserdebatte am Ende des Artikels ist eröffnet. (Sie besuchen uns in der App? Dann bitte hier klicken und mitdiskutieren.)

Die Herbstserie «Vertrauen» ist ein Gemeinschaftswerk der NZZ-Redaktion. Diese Personen waren direkt an der Umsetzung beteiligt:

Beiträge von: Nicole Anliker, David Bauer, Martin Beglinger, Beni Buess, Thomas Fuster, Beat Grossrieder, Stefanie Hasler, Rudolf Hermann, Anja Jardine, Alexandra Kohler, Marie-José Kolly, Astrid Langer, Haluka Maier-Borst, Samuel Misteli, Jürg Müller, Matthias Müller, Tobias Ochsenbein, Volker Pabst, Michèle Schell, Michael Schilliger, Birgit Schmid, Christoph G. Schmutz, Roman Sigrist, Lena Stallmach, Reto Stauffacher, Gilles Steinmann, Daniel Steinvorth, Fabian Urech, Lukas Wagner, Anna Wiederkehr.

Konzeption: David Bauer, Stefanie Hasler, Tobias Ochsenbein, Michael Schilliger, Andreas Schürer, Reto Stauffacher.

Unterstützung von: Samuel Burgener, Olivia Fischer, Oliver Fuchs, Colette Gradwohl, Christian Güntlisberger, Jonas Holenstein, Michaël Jarjour, Dina Matter, Roman Sigrist, Angela Schader, Markus Stein.