Sollen wir Menschen uns so akzeptieren, wie wir sind? Nein, wir können uns gar nicht genug optimieren!

Selbstoptimierung: Im wohlstandsgesättigten Westen hat das einen schlechten Beiklang bekommen. Zu Unrecht. Wer sich nicht optimiert, hat sich aufgegeben.

Jörg Scheller
Drucken
Selbstoptimierung zu desavouieren, ist ein Symptom von Wohlstandsverwahrlosung. (Bild: Imago)

Selbstoptimierung zu desavouieren, ist ein Symptom von Wohlstandsverwahrlosung. (Bild: Imago)

Wenn der Begriff Selbstoptimierung fällt, schwellen unweigerlich Klagegesänge an. Begriffe wie «Zwang», «Sucht» oder «Wahn» werden laut. Es wird gewarnt: vor der Zurichtung des Menschen nach Massgabe einer unbarmherzigen Leistungsideologie, vor der Unterwerfung des Menschen unter eine Diktatur der Perfektion, der, der alles Singuläre, Leise, Phantasievolle und Feinfühlige zum Opfer fällt. Und die apokalyptischen Klagen werden mit hellen Gesängen konterkariert: «Akzeptiere dich, wie du bist!»

Das klingt vielleicht gut. Nur: Es stimmt nicht. Im Gegenteil, wir können uns gar nicht genug optimieren! Alle Versuche, uns zu akzeptieren, wie wir sind, münden in gefährliche Formen des Stillstands, der Arroganz und der Kulturkämpfe. Die geläufige Ineinssetzung von Selbstoptimierung mit «Wahn» oder «Sucht» ist ein Ausdruck posthistorischer Gemütlichkeit. Menschen in Entwicklungsländern beispielsweise ist sie völlig fremd, Unterdrückte und Marginalisierte können mit ihr nichts anfangen. Alle, denen die Möglichkeiten dazu verwehrt sind, wissen zu gut, was es heisst, sich selbst und seine Lebensumstände optimieren zu können.

Im Establishment des Westens, der ein paar Jahrhunderte lang die geopolitische Nase vorn hatte, zeugt das Naserümpfen über Selbstoptimierer von der heimlichen Hoffnung, sich auf dem Erreichten ausruhen zu können. Zur Abschreckung werden Extreme wie die «Cyborgisierung» beschworen, oder das «quantified self» wird verspottet. Doch Menschen, die ihr Leben vermittels Zahlen ordnen, interpretieren und optimieren, tun dies womöglich deshalb, weil sie sich in ihrer singulären Qualität nicht respektiert fühlen.

Ich bin es wert, optimiert zu werden

Sie misstrauen etwa ihrer Ärztin, die eine Pauschaldiagnose stellt, ohne sich wirklich mit ihnen auseinandergesetzt zu haben. Vielleicht zeichnet sich hier eine differenziertere Sicht auf Zahlen ab als in der wirkmächtigen Kulturkritik Martin Heideggers, für den das «rechnende Denken» zu «Seinsvergessenheit» führte. Dass Quantität in Qualität umschlagen kann, hat schon Friedrich Engels bemerkt.

Selbstoptimierung zu desavouieren, ist ein Symptom von Wohlstandsverwahrlosung. Man muss sich das erst einmal leisten können. Wir sollten deshalb ein neues Verständnis der Selbstoptimierung entwickeln. Sie ist ein lebensbejahender, lustvoller und potenziell subversiver Prozess, der viel Raum für Freiheit lässt. Sie zeugt von Stolz wie von Demut: Ich bin es wert, optimiert zu werden, weil ich nicht optimal bin.

Das Bestmögliche aus sich machen zu wollen, ist kein Ausdruck von Überheblichkeit gegenüber der Umwelt. Im Gegenteil, es ist ein Geschenk an sie. Von der Ärztin, die ihre chirurgischen Fertigkeiten verfeinert, profitieren Patienten. Vom Denker, der seine Argumente schärft, profitiert die geistige Kultur. Von Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmern, die ihre Leistung verbessern, profitiert die Sozialpartnerschaft. Und sogar von jenen, die ihr Optimum darin sehen, öfter mal gar nichts zu tun und zu Hause zu bleiben, profitiert einer: der Umweltschutz.

Nicht perfekt – optimal

Selbstoptimierung lässt sich weder auf die notorischen kalorienzählenden Smartwatches oder auf Karrierismus beschränken, noch beruht sie allein auf äusseren Zwängen. Sie speist sich aus einer tieferen Quelle – aus nichts Geringerem als der Offenheit menschlicher Existenz. Schon 1486 schrieb der Renaissancegelehrte Pico della Mirandola: «Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich [den Menschen] geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst.»

Pico schoss zwar im humanistischen Überschwang über das Ziel hinaus. Menschen sind mitnichten souveräne Bildner oder Beherrscher ihrer selbst. Entscheidend ist aber, dass die «Ausbildung» ein offener Prozess ist, der, richtig verstanden, nie an ein Ende kommt. Denn Menschen haben weder eine eindeutige Bestimmung, noch leben sie in einer einzigen Umwelt. Man könnte sagen: Gerade Selbstoptimierung schützt vor Selbstperfektionierung.

In der Präambel der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika steht die merkwürdige Formulierung «a more perfect Union». Was heisst das? Mehr als perfekt, also mehr als «vollendet»? Das ist eine törichte Utopie. Wie wäre es stattdessen mit einer «optimal union»? Das Optimum nämlich ist nicht gleichbedeutend mit «Perfektion» oder «Ideal». Perfektion ist ein abstrakter Endzustand. Alles ist erreicht. Die Perfektionierten stehen auf einem imaginären Gipfel. Um sich und über sich nur Leere. Das Optimum allerdings ist nicht statisch und abstrakt, sondern bezieht sich auf konkrete lebensweltliche Ziele.

Sich selbst neu entwerfen

Um sich dem Optimum anzunähern, muss mit verschiedenen Voraussetzungen, Parametern und Variablen jongliert werden. Ein vertrackter Prozess. Wird ein Parameter verbessert, verschlechtert sich ein anderer. Optimiere ich mein Zeitmanagement, leidet möglicherweise meine Spontaneität darunter und damit vielleicht meine Lebensqualität. Für Optimierende folgt deshalb Gipfel auf Gipfel auf Gipfel. Haben sie einen erklommen, stellen sie fest, dass ein weiterer über diesem aufragt, dass es immer weitergeht. Aber eben nicht nur hinauf. Sondern auch abwärts und seitwärts, durch Schluchten, über Grate. Der Begriff «Optimierung» lässt völlig offen, in welche Richtung die Reise gehen soll.

Das Gute, das Schlechte, das Vernünftige, das Langweilige, das Gerechte, der Exzess – alles kann man optimieren. Entscheidend sind die Parameter, die man zugrunde legt. Auch ein Minimum kann ein Optimum sein, etwa in der Postwachstumsökonomie. Hier bedeutet Optimierung nicht vulgärkapitalistische Steigerung um der Steigerung willen, sondern Verzicht, Reduktion, Bescheidenheit.Den Avantgarden der Pop-Kultur ist es nicht um die Anpassung an Mainstream-Ideale zu tun. Sich selbst zu optimieren, meint da vielmehr, sich von der Elterngeneration loszusagen, durch Schluchten und über Grate in entlegene Gebiete aufzubrechen.

Anfang der neunziger Jahre schrieb der Hardcore-Sänger Henry Rollins: «I believe that the definition of definition is reinvention. To not be like your parents. To not be like your friends. To be yourself.» In Zeiten gruppenspezifischer Identitätspolitik ist dieses Begehren nach individueller Abweichung ins Hintertreffen geraten. Bei Rollins meint es, das Selbst, mit dem man ins Leben geworfen wurde, zu verlieren, um ein Selbst zu werden, das sich selber entwirft. Die Aufgabe lautet nicht, sich selbst wiederzufinden wie eine verlorene Geldbörse, sondern, sich selbst zu erfinden.

Etwas werden, das man nicht war

Was soll daran anrüchig oder arrogant sein? Dass man die Optimierung zu weit treiben kann? Zu weit treiben kann man alles, sogar die Vernunft. Dass man sie pervertieren kann? Es gibt nichts, was sich nicht pervertieren lässt. Nein, anrüchig und arrogant ist das müde Herabblicken auf Menschen, die sich mit Indifferenz, Genügsamkeit und Bequemlichkeit nicht abfinden wollen. Menschen, die sich selbst als Möglichkeitswesen erkennen und daraus eine Aufforderung zur Transformation ihrer selbst ableiten.

Bleibe, wie du bist! – Das kann im schlimmsten Fall heissen: Finde dich ab mit deiner Benachteiligung. Rühre an kein Tabu. Vegetiere weiter vor dich hin. Als der Hip-Hop-Pionier Afrika Bambaataa Mitte der 1970er Jahre beschloss, mit seiner Organisation Universal Zulu Nation schwarze Gang-Kids von der Strasse zu holen, betonte er die Bedeutung des «self-improvement». Hier war die Selbstoptimierung an gesellschaftliche Emanzipation gekoppelt.

Auch der humanismuskritische Denker Michel Foucault, eine Ikone der Linken, forderte in seinen späten Texten zur Lebenskunst, dass Menschen sich transformieren, sich um sich selbst sorgen, eine eigene Ästhetik der Existenz entwickeln: «Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, das man am Anfang nicht war.» Die Selbstsorge geht bei Foucault der Sorge um andere voraus, doch das Selbst existiert nur im Verhältnis zu anderen – Selbstoptimierung ist also auch Weltoptimierung. Auf verblüffend liberale Weise argumentiert Foucault, dass erst die Selbstsorge den Einzelnen befähige, eine gute Rolle in der Gemeinschaft zu spielen. Amüsanterweise fast zur gleichen Zeit wie Margaret Thatcher.

Jörg Scheller ist Dozent für Kunstgeschichte und Kulturtheorie an der Zürcher Hochschule der Künste, Musiker und Bodybuilder.

Mehr von Jörg Scheller (jsz)