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Für ein Recht auf Zittern

Bild von Ottmar Miles-Paul
Bild von Ottmar Miles-Paul
Foto: Irina Tischer

KASSEL Nicht nur das Sommerloch beginnt langsam aber sicher seine volle Wirkung zu entfalten, sondern auch das äusserst unterentwickelte Bewusstsein zum Thema Behinderung und der entsprechende menschenrechtsorientierte Umgang damit in der deutschen Bevölkerung zeigt nach Ansicht von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul wieder einmal sein wahres Gesicht. In seinem kobinet-Kommentar geht Ottmar Miles-Paul daher auf die Diskussion um das Zittern der Kanzlerin ein und fordert ein unbehelligtes Recht auf Zittern und das so sein zu können, wie man ist.

Die Schlagzeilen überschlagen sich förmlich ob des Zitterns der Kanzlerin. Da wird mitgezählt, dass es jetzt schon das dritte Mal ist, dass die Kanzlerin zitterte, da wird spekuliert, da wird psychologisiert, da muss sich die Kanzlerin ständig rechtfertigen, warum und wieso sie zittert und vor allem, dass sie voll leistungsfähig und gesund ist. Im Hintergrund steht dabei stets die Frage, ob die Kanzlerin, denn noch ihren Job machen kann, obwohl sie in den letzten Wochen unermüdlich unterwegs war und bis tief in die Nächte hinein verhandelt hat. 

Hinter all diesen Schlagzeilen, Diskussionen und gestellten bzw. nicht gestellten Fragen und Spekulationen verbirgt sich meines Erachtens die Unfähigkeit und Unwilligkeit unserer Gesellschaft im adäquaten und respektvollen Umgang mit Einschränkungen und Behinderungen. Wenn man eine vermeintliche Schwäche zeigt, da wird gleich gezweifelt und  geurteilt. Man muss sich rechtfertigen, wenn man Dinge anders macht, bzw. etwas auch einmal nicht geht oder man Assistenz oder Hilfe braucht. Das hat Wolfgang Schäuble nach dem Attentat auf ihn zu spüren bekommen, wo sich viele keinen „Kanzler im Rollstuhl“ vorstellen konnten und das bekommen immer wieder diejenigen zu spüren, die nicht den üblichen Weg in eine Behinderteneinrichtung einschlagen und vielleicht Positionen inne haben, in denen man etwas mehr verdient oder Einfluss als der Nachbar oder Kollege hat. Man wird beäugt, es wird geneidet und immer wieder muss man seine Leistungsfähigkeit und -bereitschaft über Gebühr beweisen. Das bekommt nun die Kanzlerin auch zu spüren und sollte uns zu denken geben. Das ist schlichtweg Ableismus. 

Ob man nun zittert, dicker oder dünner als die Norm ist, Dinge anders macht, Unterstützung braucht, sich schminkt oder nicht schmickt oder wie man sich kleidet, scheint in unserer Gesellschaft so wichtig zu sein und gibt meist freien Lauf zur offenen und schonungslosen Beurteilung von Menschen. Davon sind wir alle in irgendeiner Form betroffen und bezahlen dafür auch einen hohen Preis der Anpassung. Vielleicht bietet das Zittern der Kanzlerin ja einen Anlass über diese Beurteilungs- und Verhaltensweisen nachzudenken und deren Dominanz in unserem Alltag etwas zurückzudrängen. 

Lasst die Kanzlerin also zittern und kümmert euch um die wirklich wichtigen Dinge im Leben.

Lesermeinungen

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7 Lesermeinungen
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Anke Kidan
16.07.2019 09:48

Ottmar, Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen und ich bin sehr dankbar für Deinen Beitrag, möchte allerdings noch einen weiteren Aspekt hinzufügen.
Das „Zittern“ trat mehrfach auf, als die Kanzlerin während der Abnahme der Ehrenformation stehen musste, erst nach dem Dritten „Zitteranfall“ darf sie sitzen. Nun fällt mir folgendes auf: Frau Merkel – und die meisten anderen Politiker – sind nicht mehr ganz jung und müssen – aufgrund des politischen Protokolls – lange Zeit in der Sonne stehen (für die fachliche Arbeit ist das keinesfalls erforderlich). Gehe ich von mir aus, fällt mir stehen schwer und ich bin mir sicher, in der Situation von Frau Merkel hätte ich regelmäßig Probleme.
Ist es für die Tätigkeit der Kanzlerschaft überhaupt erforderlich, lange in der Sonne stehen zu können? Warum werden nicht von vornherein Stühle bereitgestellt?
Für mich war die Botschaft des Kanzleramts also: Personen mit Handicap sind weniger wert. Diese Botschaft widerspricht unserem Grundgesetz und der UN-BRK und sollte überdacht werden.

Arnd Hellinger
11.07.2019 17:01

Natürlich, Ottmar, hat auch Frau Merkel ohne Frage das Recht auf ihre Persönlichkeit, Privatsphäre etc.. Sie ist allerdings nicht „irgendwer“, sondern oberste Repräsentantin und gewissermaßen „Geschäftsführerin“ dieses Landes und da haben die von ihr Vertretenen dann meiner Auffassung nach schon irgendwo das Recht, zu wissen, was Sache ist. Leider kann „leichtes Zittern“ eben doch auch ein Anfangssymptom von MS oder Morbus Parkinson sein – mit beiden Erkrankungen durfte ich bereits unschöne Erfahrungen machen…

Und nein: Die öffentliche Nennung einer klaren Diagnose zwänge die Kanzlerin nicht per se zum Rücktritt oder würde als Zeichen ihrer „Schwäche“ gewertet – das wäre vielmehr Ausdruck persönlicher Stärke. Sie zeigt eher Schwäche, indem sie gerade nicht mit offenen Karten spielt.

André Neutag
Antwort auf  Arnd Hellinger
15.07.2019 15:30

Nur zur Klarstellung: Frau Merkel ist „oberste Repräsentantin“ des Landes, das ist Herr Steinmeier.

Arnd Hellinger
Antwort auf  André Neutag
15.07.2019 16:04

Formal richtig, aber „im Tagesgeschäft“, um das es hier geht, fällt diese Aufgabe aus guten historischen Gründen der/dem jeweils amtierenden Bundeskanzler*in zu – derzeit also Frau Merkel.

André Neutag
Antwort auf  Arnd Hellinger
16.07.2019 10:50

Das ist richtig! 🙂

Ich stimme wiederrum klar zu, dass sie mit offenen Karten spielen sollte – sofern sie selbst weiß, was hinter ihren „Symptomen“ steckt …

Robert Schneider
11.07.2019 12:44

Ottmar, du hast vollkommen recht. Jemand, der solch einen anstrengenden Job schon so lange macht, darf gerne auch mal etwas zittern. Wir werden noch eine ziemliche Weile brauchen, bis die Erkenntnis, dass Behinderte genauso leistungsfähig sind, in den Köpfen und Herzen der Menschen angekommen ist.

Perry Walczok
11.07.2019 09:00

Ich finde die Worte von Ottmar einfach toll. Leider meinen einige Möchtegern- Journalisten aus dem Zittern der Kanzlerin eine Sensation produzieren zu müssen. Aber insbesondere die Gesellschaft lässt sich nur zu schnell von Sensationslüstereien beeindrucken.
Da wären die Gaffer auf unseren Straßen zu nennen wenn sich ein Unfall ereignet hat. Oder eben, wenn ein kleinwüchsiger Mensch seinen alltäglichen Dingen nachgeht.Der Mensch wird nach seinen Äußerlichkeiten reduziert. Es ist ein Umdenken der Gesellschaft dringend erforderlich!