Digitalisierungs-Wettstreit :
Chinas Überwachungsapp drängt in die Welt

Von Hendrik Ankenbrand, Guangzhou
Lesezeit: 4 Min.
Handynutzung in China: Der Staat liest mit.
Eine Milliarde Chinesen regeln mit dem Dienst Wechat ihr Leben. Die Regierung hat auf die Daten vollen Zugriff. Deutschland wird zum neuen Testlabor.

China soll ein Überwachungsstaat sein? Nicht, wenn es nach Tencent geht. Der größte Internetkonzern des Landes, mit einem Börsenwert von 540 Milliarden Dollar wertvoller als das amerikanische Netzwerk Facebook, singt an diesem Montagmorgen in der südchinesischen Stadt Guangzhou nahe Hongkong vor 4000 Softwareentwicklern das hohe Lied des Datenschutzes. „Niemals werden wir die Privatsphäre unserer Nutzer verletzten und Chatprotokolle speichern“, ruft Zhang Xiaolong in die finstere Halle hinein.

Er ist 49 Jahre alt, Kapuzenpulliträger und als Erfinder der Tencent-Kurznachrichten-App Wechat in China eine lebende Legende. Den Dienst haben knapp eine Milliarde Menschen installiert. Noch sind die Nutzer fast ausschließlich Chinesen. Sie verbringen die Hälfte ihrer Zeit im Internet auf der App mit dem grün-weißen Logo. Zhang Xiaolong will, dass noch mehr Menschen die App nutzen – und zwar nicht nur in China. Auch deshalb schwärmt er vom Datenschutz und bezeichnet die Nutzer als „Freunde“.

„Aufbewahrt, preisgibt, heranzieht“

Das Smartphone-Programm, einst als China-Kopie des amerikanischen Messengers Whatsapp gestartet, erledigt im Alltag der Chinesen heutzutage fast alles: Nachrichten verschicken, Telefonieren mit und ohne Videobild, Kinokarten, Zugtickets und Reisen buchen, ein Taxi bestellen, Arzttermine vereinbaren und jede Art von Rechnung bezahlen sowie Geld von einem Nutzer an den anderen überweisen – innerhalb von Millisekunden.

Seit November können Kunden auch in den Läden im Münchener Flughafen mit Wechat bezahlen. Noch sind vor allem chinesische Touristen die Zielgruppe, doch der Konzern will in neue Weltmärkte vorstoßen. „Weil die deutsche Finanzaufsicht sehr streng ist, haben wir vor dem Markteintritt eine Menge recherchiert“, sagt die für das globale Wechat-Bezahlsystem zuständige Tencent-Managerin Yin Jie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Der Konzern hat Deutschland zum Testlabor für die Frage gemacht, ob westliche Kunden bereit sind, ihre Daten Unternehmen eines autoritären Staates anzuvertrauen, der seine eigenen Bürger immer stärker überwacht. Dass Peking das im Leben der Chinesen allgegenwärtige Wechat als perfektes Überwachungswerkzeug dient, für diese Erkenntnis braucht es noch nicht einmal Organisationen wie Amnesty International, in deren Datenschutz-Test die App 0 von 100 möglichen Punkten erhielt. Es braucht auch nicht chinesische Topmanager wie den Vorstandschef des Autobauers Geely, Li Shufu, der vor zwei Wochen öffentlich kritisierte, Tencent lese „jeden Tag all unsere Nachrichten“. Es reicht ein Blick in Wechats Nutzungsbedingungen: Dort müssen die Nutzer seit September zustimmen, dass Tencent ihre Daten „aufbewahrt, preisgibt und heranzieht“, nicht nur wenn die Staatsanwaltschaft bei Ermittlungen gegen kriminelle Machenschaften dies verlangt. Stattdessen rückt Tencent nach eigener Auskunft die Daten bereits im Fall der „Anfrage einer Regierungsbehörde“ heraus.

Wenn Chinas herrschende Kommunistische Partei also von Tencent wissen will, was die Wechat-Nutzer in China – oder im Ausland – so alles treiben, müssen die Machthaber einfach nur danach verlangen. Angesichts der verschärften Überwachung durch Pekings Behörden, wirkt das Versprechen von Wechat-Chef Zhang Xiaolang, keine Daten zu speichern, auf Beobachter folglich unglaubwürdig.

Der Staat verschafft sich auch Zugriff auf Daten anderer chinesischer Großkonzerne wie Alibaba. Hinzu kommt, dass Tencent einer der mysteriösesten Konzerne Chinas ist. Noch nie zuvor hat das Unternehmen auf seiner Jahreskonferenz ausländischen Journalisten Zugang gewährt. Tencents Gründer Pony Ma, dessen chinesischer Name Ma Huateng lautet, ist zwar laut dem Magazin Forbes mit einem geschätzten Vermögen von 45 Milliarden Dollar einer der reichsten Menschen der Welt. Ein Interview gegeben hat er aber noch nie.

Bekannt ist, dass Pony Ma Computerwissenschaften studiert hat und seinen Kurznachrichtendienst 1998 zu Beginn der Interneteuphorie gegründet hat. Wo der Milliardär wohnt, ob an Tencents Standort Shenzhen oder auf der benachbarten Insel Hongkong, können dort selbst Tencent-Analysten nicht sagen. Die Zurückhaltung dürfte von Vorteil sein im heutigen China, in dem seit der Machtübernahme des Präsidenten Xi Jinping vor fünf Jahren immer wieder erfolgreiche Unternehmer für Wochen und Monate von der Bildfläche verschwinden und anschließend verlauten lassen, sie hätten den Behörden „geholfen“.

„Die Menschen digitalisieren“

Tencent sieht sich noch längst nicht am Ziel. Wechat soll alle anderen Internetangebote ersetzen. Bereits heute sind 580.000 so genannte „Mini-Programme“ von Drittanbietern ladbar, die in das Ökosystem der App integriert werden und daraus später auch nicht mehr wieder zu löschen sind, wie Wechat-Erfinder Zhang Xiaolang in Guangzhou amüsiert mitteilte.

Tencent macht aus der Verbindung zum Staat kein Geheimnis. „Die Regierung ist nicht unser Feind“, sagt Gu Haijun, Direktor von Wechats „Offenen Plattformen“. Die Staatsführung schätze es, dass sie über die App Zugriff auf „so viele Nutzer aus allen Gebieten und Altersschichten“ habe und diese über behördliche Anweisungen „sofort informieren“ könne. Der Zugriff auf Wechats Bezahlsystem, in dem laut Bereichsleiter Geng Zhijun „Hunderte Milliarden Yuan zirkulieren“, dürfte ebenfalls von Vorteil für den Staat sein.

„Wir wollen die Menschen digitalisieren“, sagt Wechat-Manager Geng. Wenn Tencent darf, dann auch im Ausland. In China selbst ist das Ministerium für Öffentliche Sicherheit von der Idee so begeistert, dass es gerade die amtlichen Ausweisdokumente mit Wechat ersetzt hat. In Guangzhou darf man seitdem seinen Personalausweis zuhause lassen. Zugtickets, Hotelanmeldung, Tanken – alles, was eine Identifikation erfordert, erledigt Wechat, auch per Gesichtserkennung. Entwickelt wurde die Technik von der Polizei.