"Vorsicht – kein Enthüllungsbuch!" könnte man als Sticker auf Heike Geißlers Saisonarbeit kleben. Und gleich noch einen zweiten daneben: "Gut so!". Denn dieses Buch ist mehr: ein Reportage-Essay-Roman, der es sich nicht so leicht macht, aus gesicherter Haltung heraus gegen Feindbilder anzuschreiben. Die Erzählfigur – eine Schriftstellerin und Übersetzerin – ist selbst mit Haut und Haar involviert, ist durchlässig für diese Arbeitswelt und ihre Sprache. 

Heike Geißlers Buch zeigt dabei umso genauer, wie Arbeit im 21. Jahrhundert in der Regel immer noch aussieht und was sie mit denen, die sie verrichten, anrichtet. Hier drei schnelle, folgerichtige Schritte quer durchs Buch: "Sie sitzen in der Straßenbahn, ich sehe Sie sitzen, sehe im schroffen Straßenbahnlicht das Alter in Ihr Gesicht einziehen; es verkleidet sich gerade noch als Müdigkeit." Dann: "Sie sind jetzt erledigt, nicht nur körperlich, sondern auch Ihr Kopf, der zugleich ein bisschen Ihr Herz ist, hat Schaden genommen. Oder Ihr Herz, das zugleich ein bisschen Ihr Kopf ist, hat Schaden genommen." Und dann: "Ihnen zerfallen nun die Hände und zerbröseln die Knochen und der Wind weht durch Sie hindurch."

Geißler, Jahrgang 1977, hat drei Monate im Versandlager von Amazon gearbeitet. Zu Beginn macht die Erzählerin sich versuchsweise noch vor, zu Recherchezwecken zum Vorstellungsgespräch bei Amazon zu erscheinen. Doch sie braucht schlicht Geld. Sie kann von ihrer eigentlichen Arbeit, dem Schreiben, nicht leben. Sie lebt nicht, wie ein Bekannter, dessen Buch sie später einmal, in Amazon-Sprech, receiven wird, in einer Welt, "in der man mit einem Job, den man mag, eine Frau und ein Kind ernähren kann."

Der alte Kapitalistentraum, man müsse nur gut sein in dem, was man tut, hart arbeiten und daran glauben, dann komme schon der Erfolg, entpuppt sich als Illusion. Es kann einem genau so gut passieren, dass der Markt – dieses seltsame Wesen, von dem alle immer sprechen – einen ums Verrecken nicht will. 

Damit die Erzählung von drei Monaten Amazon nicht in einer Einzelfallstudie steckenbleibt, hat Geißler einen klugen Kniff parat: Sie spaltet ihre Hauptfigur auf in ein "Ich" und ein von ihm angesprochenes, im Sprechen erst erfundenes "Sie": "Sie gehen los, ich begleite Sie und sage Ihnen, wie alles ist und was Ihnen passiert. Sie sind ab jetzt als ich unterwegs."

Diese Konstruktion trägt das ganze Buch, bringt alles Erzählte zum Schillern, hält es in der Schwebe zwischen Persönlichem und Allgemeinem, Bericht und Pamphlet, Klage und Anklage. "Sie" gewinnt dabei zunehmend an Eigenleben, entfernt sich vom "Ich", wird sein Spiegel und Korrektiv. "Sie" ist über weite Strecken, was "Ich" nicht sein konnte: fast immer einen Tick aufsässiger, mutiger. Wie ihre Kollegin Melly, neben der sie für ein paar Tage arbeiten darf, und die gegen den andauernden Leistungswahn bemerkt: "Mir muss niemand sagen, wie ich arbeite, ich weiß selber, wie ich arbeite. […] Die haben ja alle einen Knall. Das kann mir aber nichts anhaben. Ich mach mich hier nicht tot." Was einem in der zugigen Versandhalle, deren klaffende Türen niemand repariert, sonst durchaus passieren könnte.